Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Heike Christina Mätzing, Geschichte im Zeichen des historischen Materialismus. Untersuchungen zu Geschichtswissenschaft und Geschichtsunterricht in der DDR, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1999 (= Studien zur Internationalen Schulbuchforschung, Schriftenreihe des Georg-Eckert-Instituts, Bd. 96), 640 S., brosch., 20 EUR.*

Die Untersuchung von Heike Mätzing, Druckfassung ihrer Dissertation an der TU Braunschweig von 1996, gilt tatsächlich in gleicher Weise den beiden Themen, die im Titel mit einem „und" verknüpft werden, der Geschichtswissenschaft und dem Geschichtsunterricht in der DDR. Ihre genuine Leistung liegt ohne Zweifel vor allem im Bereich der bildungshistorisch ansetzenden fachdidaktischen Forschung; denn über die Konstruktion von Geschichtslehrplänen und Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht in der Mittelstufe der Polytechnischen Oberschule in den Jahren nach 1982 wird man hier wirklich auf neuem Niveau und gestützt auf eine Vielzahl neuer, heute z.T. gar nicht mehr verfügbarer Quellen intensiv informiert. Dabei bleibt die Beziehung zur Geschichtswissenschaft dennoch nicht zufällig; denn die Autorin beschreibt den Konstruktionsprozess von Lehrplänen und Schulbüchern zentral unter der Frage, wie sich in diesen bildungspolitisch und pädagogisch definierten Verfahren die Geschichts-Wissenschaft sowohl personell wie sachlich, mit ihren Forschungsbefunden und Analyseperspektiven zur Geltung bringen konnte. Im Ergebnis ist der Befund einer großen Differenz von Schulwissen und Wissenschaft sowie der Dominanz der Politik, ja sogar der eindeutigen Dominanz der Ministerin als Person, nämlich Margot Honeckers, für einen Bildungshistoriker weder systematisch noch für die Schulgeschichte der DDR wirklich überraschend; denn diese Differenz gehört, wenn auch vielleicht nicht in dieser Radikalität, schon immer zum System der Schulbuchkonstruktion – im übrigen, trotz aller Systemdifferenzen, die man selbstverständlich nicht ignorieren kann, nicht nur in der DDR. Heike Mätzing gewinnt diesem Befund aber zugleich disziplingeschichtliche Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Politik in der DDR ab, und deswegen verdient der Band auch über den engeren Kreis der Bildungshistoriker hinaus Beachtung.

Ihre Dissertation ist systematisch nämlich auch von der These bestimmt, dass für die Geschichtswissenschaft der DDR und für ihr Geschichtsbild, innerhalb und außerhalb der Schule, nicht eine „einheitliche Ausgestaltung", sondern „innermarxistische Ausdifferenzierung" charakteristisch gewesen sei. Die Materialien, die sie als Quellen für die Konstruktion des Lehrplans geben kann, liefern ihr deshalb zugleich Indizien dafür, dass die Geschichtswissenschaft der DDR eine gegenüber den politisch-ideologischen Vorgaben des Volksbildungsministeriums und der SED differenzierteres Bild der deutschen Geschichte entwickelt habe. Die These wird in einer zweifachen Annäherung entfaltet: in den Kapiteln I und II steht die Geschichtswissenschaft im Mittelpunkt, im Allgemeinen, wenn die Geschichte der „materialistischen Geschichtsbetrachtung" seit Marx und Engels und bis in die DDR hinein verfolgt wird, konkret, wenn für die DDR die Themen und Ergebnisse der historischen Forschung für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts ausgebreitet werden, also für das Thema, das auch den Geschichtsunterricht der Zeit und der Schuljahre bestimmt, den die Autorin danach untersucht. Dabei stellt sie in Kapitel III zunächst die „Fundamente des DDR-Geschichtsunterrichts" dar, d.h. die Bildungskonzeption, die Funktion der Fachdidaktik sowie Lehrplan und Schulbuch in Theorie und Praxis. Kapitel IV. und V. liefern dann auf 200 Seiten das bildungshistorische Kernstück der Arbeit: die „Lehrplan- und Schulbuchkonzipierung in den 1980er Jahren" sowie, inhaltsanalytisch gestützt und z.T. auch quantifiziert, die Untersuchung der Darstellung der „deutschen Geschichte im Spiegel der DDR-Lehrbücher von 1988/89". Hier werden – in der Konstruktion - die relative Machtlosigkeit und der – etwas zu emphatisch bezeichnete – vergebliche „Widerstand" der Historiker sowie die Differenz von Wissen und Themen, Perspektiven, Bildern und Quellen zwischen historischer Forschung und Schulbuch herausgearbeitet. Mätzing liest das als Indiz für Differenzen, einverstanden, aber gegen naheliegende Pluralismusthesen als Diagnose über die historiographische wissenschaftlichen Arbeit wird man sich erinnern müssen, dass sie ausdrücklich „systemimmanent" forscht und argumentiert, also weder den Erkenntniswert der historischen Forschung noch die Systemspezifik in der Transformation von Forschungswissen in Schulwissen behandelt (und bei der Konstruktion des Geschichtsbildes, wie meist in fachdidaktischen Studien, nicht wirklich die bedeutsame und entscheidende Ebene des Unterrichts erreicht oder gar die Wirkungsfrage für die Schüler thematisiert).

Ihr Resümee (dem noch „anstelle eins Nachworts: ein Literatur- und Forschungsbericht aus der Perspektive des Jahres 1998" folgt), pointiert dann einerseits so etwas wie eine wissenschaftliche Ehrenrettung der Geschichtswissenschaft der DDR, andererseits eine Kritik des Zugriffs der Bildungspolitik auf den schulischen Unterricht. Aber so überzeugend die Analyse des Geschichtsunterrichts, seiner Planungsprozesse und Materialien ausfällt, schon wegen der breiten Quellengrundlage, so wenig überzeugt die Analyse der Geschichtswissenschaft. Die Kapitel zu den theoretischen Vorbildern bleiben paraphrasierend auf der Ebene der Editions- und Rezeptionsgeschichte der Marx-Engelsschen Texte, ohne präzise Klärung dessen, was denn nun, im Unterschied zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte etwa, „materialistische Geschichtsbetrachtung" systematisch bedeutet; ihr „Forschungsbericht" über die DDR-Historiographie zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist wirklich nur „ein Anfang", bei dem die bibliographischen Hinweise (aus bekannten Bibliographien und Forschungsberichten der DDR) die zu knappe Analyse eindeutig überwuchern. Für die Disziplingeschichte bietet sie im Ergebnis deshalb zu wenig, um neben der Differenzbehauptung gegenüber dem historischen Schul(buch)wissen und den unterschiedlichen bildungspolitischen Fraktionen zwischen Wissenschaft, Ministerium, Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, Zeitschriften und der Lehrerweiterbildung auch noch die These der systematisch relevanten Vielfalt der Historiographie selbst belegen zu können. Die etwas apologetischen Bemerkungen über die DDR-Geschichtswissenschaft im abschließenden Literaturbericht gewinnen ihre Plausibilität deshalb auch primär aus dem ja immer zutreffenden „more-research-is-needed"-Argument, weniger aus ihren eigenen materialen Analysen. Gleichwie, bildungshistorisch ist die von Heike Mätzing vollzogene Wende zur Analyse der konkreten Lehrplanarbeit ebenso ertragreich wie die Konzentration auf die systematische Frage nach der Differenz von Forschungswissen und Schulwissen und die Erhellung der systematischen Ursachen, die in Politik und Gesellschaft der DDR dafür verantwortlich waren. Jetzt müssen weitere disziplinhistorische Untersuchungen folgen, um auch ihre Fragen und Thesen über die Geschichtswissenschaft weiter diskutieren zu können.

Heinz-Elmar Tenorth, Berlin



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* Korrektur (falsche Preisangabe des besprochenen Werkes) am 28.10.2002