Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Sabine Hepperle, Die SPD und Israel. Von der Großen Koalition 1966 bis zur Wende 1982 (= EHS, Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Band 861), Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main etc. 2000, 499 S., brosch., 128 DM.

Eine Analyse des Verhältnisses deutscher Politiker zum Staat Israel muss notwendigerweise in den Kontext der nationalsozialistischen Judenvernichtung eingebettet werden. So leitet auch Hepperle die besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem jüdischen Volk und Israel aus einer historisch-moralischen Verpflichtung ab, die sich aus dem Holocaust ergibt. Nicht nur sozialdemokratisch geführte Regierungen, alle bisherigen Bundesregierungen ließen sich von dieser Maxime leiten, die auf politische und ökonomische Unterstützung des Staates Israel im Rahmen seiner staatlichen Existenzsicherung zielte.

Kompliziert und widersprüchlich wurde das Verhältnis zu Israel durch den jahrzehntelangen Nahostkonflikt, dem sich die SPD in der Großen Koalition und in der sozialliberalen Ära stellen musste. Hepperle beschreibt vor dem Hintergrund des Dilemmas, einerseits der historisch-moralischen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volks gerecht zu werden, andererseits die arabischen Staaten nicht zu verprellen, die Genesis der Israel- und Nahostpolitik der SPD als Regierungspartei. Bis Mitte der 1960er Jahre hatte sich die SPD als Oppositionspartei aus historischer Verantwortung gegenüber der NS-Vergangenheit vorrangig für eine Aussöhnung und Verständigung mit den Opfern des Holocaust eingesetzt. Seit 1966 musste sie als Regierungspartei die deutsch-jüdische Verständigung unter dem Diktat energiepolitischer Abhängigkeiten von den arabischen Staaten – also unter Berücksichtigung staatspolitischer Interessen – fortsetzen. Der Autorin gelingt es überzeugend, diese komplizierte Gratwanderung der sozialdemokratischen bzw. sozialliberalen Israel- und Nahostpolitik faktenreich zu analysieren.

Aufschlussreich für die Hintergründe der Haltung der SPD-geführten Bundesregierungen zum Nahostkonflikt ist die Feststellung, dass die Beziehungen zu den arabischen Staaten trotz offizieller Freundschaftsbekundungen in erster Linie durch die westdeutsche Abhängigkeit von arabischen Energielieferungen gekennzeichnet war. Das erklärt das ständige Lavieren zwischen der Anerkennung palästinensischer Forderungen nach Selbstbestimmung bzw. Unabhängigkeit und demonstrativer Solidarität mit Israel in den militärischen Auseinandersetzungen mit den arabischen Staaten. Auf den Prüfstein geriet dieses Taktieren dann insbesondere während des Jom Kippur-Krieges und der Ölkrise 1973, als die proklamierte geschichtsbewusste Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat mit realpolitischen Interessen der Bundesrepublik zu kollidieren begann. Hepperle betrachtet die seit dieser Zeit eingeschlagene Taktik, den sich aus energiepolitischen Abhängigkeiten vom arabischen Raum ergebenden spezifischen Staatsinteressen der Bundesrepublik ostentativer Rechnung zu tragen, ohne dabei die historisch bedingten Hypotheken in Bezug auf Israel zu ignorieren, als einen geschickten Schachzug der Israel- und Nahostpolitik in der Ära Brandt. So gehörte seit 1973 der Verweis auf die legitimen Rechte der Palästinenser zum elementaren Bestandteil offizieller Stellungnahmen der Bundesregierung zur Nahostpolitik.

Recht eindrucksvoll stellt Hepperle dar, wie während der Kanzlerschaft Schmidts die nun an Gewicht gewinnenden ökonomisch-energiepolitischen Interessen die Haltung zum Nahostkonflikt weitgehend bestimmten. Diese faktische Ökonomisierung der Israel- und Nahostpolitik kam am deutlichsten im Streben nach Normalisierung der deutsch-arabischen Beziehungen zum Ausdruck. In diesen Kontext stellt die Autorin auch das Plädoyer für das palästinensische Selbstbestimmungsrecht und die Anerkennung der PLO als politisch ernstzunehmenden und respektablen Faktor. Diese außenpolitische Akzentverlagerung wurde dann durch die israelische Libanoninvasion 1982, die eine nachhaltige Zäsur in der Einstellung der sozialliberalen Bundesregierung zu Israel markierte, weiter verstärkt. Generell gelangt Hepperle zum dem Befund, dass auf der Regierungsebene der „Vergangenheitsfaktor" als Hauptdeterminante westdeutscher Israelpolitik im Zuge wachsender Distanz zur israelischen Palästinenser- und Territorialpolitik an Bedeutung verlor.

Der Reiz der Arbeit besteht darin, dass Hepperle eben nicht ausschließlich Regierungspolitik analysiert, sondern die Positionen der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder und die Einstellungen der Führungsgremien der SPD und der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion vergleichend betrachtet. Für die Ära Brandt diagnostiziert die Autorin eine weitgehende innerparteiliche Übereinstimmung in der Israel- und Nahostpolitik, die dem Eintreten für die Existenz des Staates Israel in sicheren Grenzen absolute Priorität einräumte. Seit dem Ausbrechen des Jom Kippur-Krieges und der Ölkrise 1973 beobachtet Hepperle jedoch Auflösungserscheinungen im Konsens zwischen den parteiinternen Gremien und der SPD-geführten Bundesregierung. Innerhalb der sozialdemokratischen Partei- und Fraktionsgremien traten seit Mitte der 1970er Jahre Exponenten einer Israelkritischen Position stärker hervor. Vertreter der Parteilinken kritisierten die vergangenheitsdeterminierte Ausrichtung der Israel- und Nahostpolitik der Bundesregierung und plädierten für eine Anerkennung des Palästinenserstaates, ohne dabei die Unterstützung des israelischen Existenzrechts in Frage zu stellen. Demgegenüber nahm die Parteirechte gerade die sich abzeichnende Hinwendung der Bundesregierung zur Verteidigung palästinensisch-arabischer Rechte ins Visier.

Für das Ende der Ära Schmidt konstatiert die Autorin einen deutlichen Riss im partei- und fraktionsinternen Konsens in Bezug auf Israel und den Nahostkonflikt. Generalisierend schätzt Hepperle das innerparteiliche Meinungsbild wie folgt ein: „Die primär in der Parteirechten angesiedelte Kriegsgeneration erwies sich stets als mehrheitlich Israel-freundlich, während die überwiegend in der Parteilinken beheimatete Nachkriegsgeneration vornehmlich der palästinensisch-arabischen Seite zugeneigt war." (S. 461 f.) Die zunehmende Heterogenität habe allerdings die Dominanz einer pro-israelischen Grundtendenz in der Partei nicht brechen können, die maßgeblich durch den Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner und den Parteivorsitzenden Willy Brandt stabilisiert worden sei.

Auch zwischen den Koalitionspartnern SPD und FDP erkennt Hepperle während der sozialliberalen Ära partielle Unterschiede. Während bei der SPD über die ganze Zeit hinweg Israel-freundliche Überzeugungen dominierten, habe sich die FDP besonders in der Ära Brandt mit einer pro-arabischen Orientierung profiliert, die sich auf eine ökonomisch definierte Einstellung der FDP-Führung zurückführen lasse. Die Autorin beschreibt, auf welche Weise diese unterschiedlichen parteipolitischen Präferenzen zu tagespolitischen Meinungsverschiedenheiten in der Koalition geführt hatten. Dennoch habe ein koalitionsinterner Konsens in der Nahost- und Israelpolitik darüber geherrscht, dass die Deutschen gegenüber Israel eine besondere historisch-moralische Verantwortung wahrzunehmen hätten. Die Tatsache, dass es in der Ära Schmidt in der Israel- und Nahostpolitik kaum Reibungspunkte innerhalb der Koalition gab, erklärt die Autorin mit der offenkundigen Einigkeit zwischen Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher in der Palästinenserfrage.

Insgesamt ist es Hepperle auf überzeugende Art gelungen, ein komplexes, fassettenreiches und aussagekräftiges Bild über die Genesis von Einstellungen und Politik der SPD gegenüber Israel im Bezugsrahmen der deutsch-israelischen Beziehungen und der westdeutschen Nahostpolitik zu untersuchen, das sich keinem parteipolitischen Deutungsmonopol verpflichtet fühlt. Das ausführlich erörterte Dilemma der Nahostpolitik der Großen Koalition wie auch in der sozialliberalen Ära, einen gangbaren Weg zwischen historisch-moralischer Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk sowie dem Staat Israel und pragmatischen Staatsinteressen zu finden, besteht freilich auch heute noch.

Andreas Malycha, Berlin



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