Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Sheila Fitzpatrick/Yuri Slezkine (Hrsg.), In the Shadow of Revolution. Life Stories of Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton UP, Princeton/NJ 2000, VIII, 443 S., kart., 15,95 $.

In diesem umfangreichen Band haben die Herausgeber – beide Professoren für russische Geschichte an den Universitäten Chicago bzw. Berkeley - 36 lebensgeschichtliche Äußerungen russischer Frauen zusammengetragen, die von Yuri Slezkine ins Englische übersetzt wurden. Damit werden diese Texte, wenn auch zum großen Teil erheblich gekürzt, endlich einem breiten Leserkreis zugänglich gemacht. Abgesehen von zwei Beiträgen, die erst in postsowjetischer Zeit entstanden, erschienen die meisten noch während des Bestehens der Sowjetunion im Land selbst oder in der ausländischen Emigrantenpresse. Diese Auswahl bereits veröffentlichter Texte haben die Herausgeber um einige neuerdings zugängliche Archivalien ergänzt. So gibt der Band in seiner Vielfalt an autobiografischen Texten Einblick in unterschiedliche Lebenswelten russischer Frauen zwischen dem Revolutionsjahr 1917 und dem deutschen Überfall 1941.

Dieses an dramatischen politischen Ereignissen reiche Vierteljahrhundert ist chronologisch in drei Kapitel „Bürgerkrieg als Lebensweise (1917-1920)", „Auf dem Weg zu neuen Lebensformen (die zwanziger Jahre)" und „‘Das Leben ist fröhlicher geworden‘(die dreißiger Jahre)" eingeteilt, denen 10 bzw. 12 und 14 Texte zugeordnet sind. Jedes der drei Kapitel beginnt mit einer knappen historischen Einleitung, jedem Text sind kurze biografische Hinweise zur Autorin vorangestellt.

Die Verfasserinnen der Texte wurden zwischen 1869 und 1925 geboren und entstammten unterschiedlichen sozialen Schichten. Verliererinnen und Gewinnerinnen der Oktoberrevolution und der Stalinschen „Revolution von oben" kommen zu Wort, Anhängerinnen ebenso wie Gegnerinnen des Regimes. Das Spektrum der Autorinnen umfasst Aristokratinnen, Intellektuelle, Ingenieurinnen, Mitglieder der Sowjetelite, Hausfrauen, Arbeiterinnen und Bäuerinnen. Emigrantinnen sind mit 10 Texten vertreten, 3 Verfasserinnen lassen sich der "inneren Emigration" innerhalb der Sowjetunion zuordnen, während die Mehrheit der Texte von augenscheinlich loyalen Sowjetbürgerinnen stammt. Ethnizität hingegen hat bei der Auswahl der Texte keine Rolle gespielt, da die Herausgeber mit gutem Grund darauf verzichtet haben, alle Völker der Sowjetunion gleichermaßen zu berücksichtigen.

Zwar handelt es sich, wie der Untertitel ankündigt, tatsächlich um „Lebensgeschichten", nicht aber in allen Fällen um klassische Quellen wie Memoiren oder Autobiografien. In den Band Eingang fanden auch lebensgeschichtliche Interviews, für offizielle Anlässe verfasste Kurzbiografien, öffentliche Reden sowie Briefe, sofern sie Informationen zum Werdegang der Verfasserin enthalten. Somit stehen Texte völlig unterschiedlicher Qualität und Entstehungsweise nebeneinander: Selbsterforschung folgt auf Propagandamaterial, Leidensgeschichten werden abgelöst von Jubelberichten. Die verschiedensten Frauenstimmen aus drei unterschiedlichen Epochen der Sowjetgeschichte kommen zu Wort, wobei stark divergierende Erfahrungen in klar voneinander abweichenden Sprachstilen mitgeteilt werden. Sie spiegeln nicht immer das individuelle Bewusstsein der genannten Autorin wider, sondern mitunter eher die Zielstellung von Zensoren, Ghostwritern oder Lektoren, die z.B. mit der Sammlung und Veröffentlichung von Frauenerinnerungen zu bestimmten Themen befasst waren. Gefragt war in diesem Falle nicht Selbsterforschung, sondern die Konstruktion eines „Selbst", das im Sinne des neuen politischen Systems brauchbar war. So entstanden ganz neue, typisch sowjetische Genres von „Selbstzeugnissen", die bald einem einheitlichen Aufbau folgten, der sich deutlich von der klassischen russischen Autobiografie unterschied. Gleichwohl schildern beide Arten von Lebenserinnerungen das Revolutionsjahr 1917 als Wendepunkt, der das individuelle Leben in ein „vorher" und ein „nachher" schied und das alte vorrevolutionäre Leben rigoros vom neuen revolutionären trennte. Dieses „Lagerdenken" haben Patriotinnen offensichtlich ebenso verinnerlicht wie Emigrantinnen.

Anders als sonst für „Frauenerinnerungen" typisch, spielt in den hier zusammengefassten Texten das Persönliche im Vergleich zur Beschreibung der politischen Umwälzungen nur eine untergeordnete Rolle. So sehr die einzelnen Lebensgeschichten im Hinblick auf soziale Herkunft, Beruf, politische Einstellung der Autorinnen - und je nach Zeitpunkt der Niederschrift noch mehr - voneinander abweichen und deshalb nicht „eine typische Frauenerfahrung", sondern stark divergierende Erfahrungen von Frauen wiedergeben, so sehr unterscheiden sich diese Wahrnehmungen doch von denjenigen männlicher Autoren gleichen Alters. Auf diese Besonderheiten gehen die Herausgeber in zwei ausführlichen Einleitungen ein, von denen die eine in den sozial-historischen Hintergrund, die andere in die Struktur autobiografischer Narration russischer bzw. sowjetischer Provenienz einführt.

Leider fehlt dem ansonsten empfehlenswerten Band eine Bibliographie, die wenigstens die ins Englische übersetzten und in den chronologischen Rahmen passenden Memoiren russischer Frauen berücksichtigt, die längst erschienen sind, wie z.B. Gulag-Erinnerungen (z.B. Evgenija Ginsburg) oder Memoiren von Politikerinnen (etwa Aleksandra Kollontaj) oder Mitgliedern der Sowjetelite wie Svetlana Allilueva (Stalins Tochter). Ebenso verzichtet haben die Herausgeber auf die Nennung weiterführender Literatur zum (geschlechter-)historischen Hintergrund der Jahre 1917-1941. Die Annotationen in den Einleitungen gleichen diese Mängel leider nicht aus. Unverständlich ist ferner, weshalb einige Texte, die ursprünglich mehrere Hundert Seiten umfassten, auf ein Format von nur noch 10-20 Seiten gekürzt wurden, ohne die Auslassungen kenntlich zu machen und zu begründen.

Beate Fieseler, Bochum



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001