Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

David Cannadine, Class in Britain, Yale University Press, New Haven/London 1998, 242 S., geb., 19,95 £.

Die vorliegende Monographie befasst sich mit der Verwendung des Klassenbegriffs in Großbritannien vom späten 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Nach Auffassung des Autors scheint ein Streifzug durch die Begriffsgeschichte den Schluss nahe zu legen, dass der Klassenbegriff als historisch-empirische Kategorie keine ausreichende Erklärungskraft besitzt. Das begünstige die etwa von Margaret Thatcher vorgetragene Forderung, sich von diesem Terminus als einem Werkzeug demagogischer Polemik zu verabschieden. Dennoch falle es auch konservativen Politikern nicht leicht, sich dem Eindruck zu entziehen, dass die britische Gesellschaft tatsächlich durch eine Klassenstruktur geprägt sei: Das von John Major ausgerufene Ziel, Großbritannien in eine klassenlose Gesellschaft zu verwandeln, enthalte schließlich die Implikation, dass es faktisch immer noch um eine Klassengesellschaft gehe.

Der Autor plädiert dafür, den Klassenbegriff in einem Feld umstrittener Wirklichkeitsdefinitionen zu verorten, die nur mit Gewalt auf einen Nenner gebracht werden könnten. Es handle sich weder um eine Ordnungskategorie, die mit naturwissenschaftlicher Präzision angewandt werden könne, noch um individuelle Imaginationen, die allenfalls als Symptom massenhafter Selbsttäuschung von Bedeutung wären. Einen festen Ausgangspunkt und eine unbestreitbare Leitlinie für die Beschreibung der britischen Gesellschaft gebe es nicht, in der Semantik des Klassenbegriffs spiegle sich die facettenreiche Geschichte multipler Identitäten. Gleichwohl treten nach Cannadine bei sorgfältiger Analyse mehrere Deutungsmuster hervor, die allein aufgrund ihrer Wirksamkeit nicht als reine Hirngespinste abgetan werden können. Das historiographische und soziologische Augenmerk habe sich auf drei Ansätze zu konzentrieren: Den ersten zeichne das Bestreben aus, die Gesellschaft als Statushierarchie mit einer Vielzahl von Abstufungen und graduellen Übergängen zu deuten, wobei die individuelle Identität durch personale Beziehungen zu Gleichrangigen und Abgrenzungen gegenüber Höheren und Niederen bestimmt wird. Der zweite zeichne sich dadurch aus, dass die Gesellschaft in obere, mittlere und untere Schichten zerlegt werde, die sich jeweils durch die Besonderheit ihrer Ressourcen und Kapazitäten wie auch durch ihre Funktion für die Erhaltung des Gemeinwesens charakterisieren lassen. Der dritte Ansatz schließlich teile die Gesellschaft dichotomisch in oben und unten, Reich und Arm, Herrschende und Beherrschte. Alle drei Beschreibungen haben nach Auffassung des Autors zwar Pluspunkte vorzuweisen, lassen sich jedoch nicht in einem konsistenten Modell verbinden. Es handle sich jeweils um übermäßige, gerade deshalb aber wirkungsvolle Vereinfachungen. Diese Wirksamkeit werde vor allem durch Akteure in der politischen Arena entfaltet.

Schon für das 18. Jahrhundert, das grob auf die Zeit von der Glorious Revolution bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg datiert wird, weist der Autor alle drei Lesarten des Klassenbegriffs nach. Dominant sei das Ständemodell gewesen: Die Erfahrung des Bürgerkriegs habe die Vorstellung von einer sorgsam zu wahrenden Abstufung unterstützt, damit Frieden unter den Menschen herrsche. Trotz industrieller Revolution und der Ausdehnung demokratischer Partizipation habe sich die Sichtweise im 19. Jahrhundert nicht grundlegend gewandelt.

Die polemische Verwendung des dichotomischen Klassenbegriffs habe in Zeiten der Krise zugenommen, sich aber zu keiner Zeit gegen das tripartitionistische und erst recht nicht gegen das hierarchische Modell durchsetzen können. Die Diskussion über die Sozialstruktur sei zwar stärker politisiert worden, ein Paradigmenwechsel sei aber nicht zu beobachten gewesen.

Nach dieser Sicht gewinnt das Vokabular des Klassenantagonismus dann an Prominenz, wenn es zu einer akuten Verschärfung sozialer Disparitäten kommt, ohne jedoch einen definitiven Vorrang zu erlangen. So griffig die Kontrastierung anhand von zwei Großgruppen sei, ergebe nach dem Abklingen der Turbulenzen die nähere Betrachtung doch immer wieder, dass die strikte Demarkation von zwei sozialen Lagern einen Willkürakt beinhalte. Daher könne es nicht überraschen, dass sich sogar innerhalb der britischen Arbeiterbewegung die dichotomische Konzeption nicht durchsetzen konnte. Auch bei dem tripartionistischen und dem hierarchischen Ansatz handle es sich um Überzeichnungen, die insgesamt allerdings eine stärkere Praxisrelevanz beweisen konnten; aufgrund des tief eingeschliffenen Traditionalismus in der britischen Kultur habe Letzterer auch am Ende des 20. Jahrhunderts seine eminente Definitionsmacht nicht verloren.

Im Rahmen demokratischer Öffentlichkeit ergebe sich die politische Notwendigkeit, eigene Ordnungsentwürfe so zu formulieren, dass der Attraktivität anderer Ansätze Rechnung getragen werde. So fehle es im 20. Jahrhundert nicht an Versuchen, heterogene Konstruktionsprinzipien miteinander zu verbinden. Exemplarisch dafür stehe der Konservatismus in der Thatcher-Ära, der nicht nur mit royalistischen Akzenten die Gliederung nach Rang und Stand bekräftigt habe: Die Reverenz gegenüber Brauch und Herkommen verband sich mit der liberalistischen Würdigung der ökonomischen Stärke der Mittelschichten und einer moralischen Grenzziehung zwischen Leistungswilligen auf der einen Seite und Leistungsverweigerern auf der anderen Seite. Die Anleihe bei tripartionistischen Konstruktionen diente Cannadine zufolge dazu, die Interessenkonvergenz von alten und neuen Eliten herauszustreichen, wohingegen die bipolare Schematisierung den polemischen Zweck erfüllt habe, politische Gegner als Apostel von Neid und Faulheit moralisch zu diskreditieren. Das Ideal der klassenlosen Gesellschaft im Sinne von Margaret Thatcher und ihres Nachfolgers John Major basierte in dieser Sicht auf der Identifizierung des Bürgers mit dem zahlungskräftigen Konsumenten politischer Dienstleistungen, der sich an Statussymbolen orientiert, auf seine eigene Kapazität baut und bei allen Transaktionen immer im Blick behält, welchen Gegenwert er für sein Geld geboten bekommt. Die Strategie von New Labour zeichnet sich nicht durch eine frontale Attacke auf dieses Modell aus, sondern durch eine moderate Umdeutung. Respekt vor den Institutionen und die explizite Orientierung zur Mitte hin verbinden sich mit einer Rhetorik, die sich auf das Wohl der bislang Ausgeschlossenen konzentriert und den zivilen Einsatz zur Überwindung von Benachteiligung fordert.

Die Stärke von Cannadines Arbeit liegt in der souveränen Handhabung politischer Literatur, gestützt auf große geschichtswissenschaftliche Detailkenntnis und schriftstellerische Begabung. Als Schwäche ist zu monieren, dass es sich weithin um eine Darstellung politischer Rhetorik handelt und der Brückenschlag von der Ideengeschichte zur Sozialgeschichte allenfalls kursorisch angedeutet wird. Philosophische Einlassungen, politische Ansprachen und andere Varianten veröffentlichter Meinung sind aber letztlich als Detektoren sozialer Strukturen nicht zuverlässig genug.

Carsten Quesel, Schwäbisch Gmünd



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