Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Mark Bassin, Imperial Visions. Nationalist Imagination and Geographical Expansion in the Russian Far East, 1840-1865, Cambridge UP, Cambridge 1999, geb., 329 S., 45 £.

Von den großen Strömen Sibiriens ist der Amur der kürzeste, aber der einzige, der nicht von Süden ins Polarmeer, sondern nach Osten in den Pazifik fließt. Dieser für Europa kaum bemerkenswerte geographische Sachverhalt besaß für den russischen Nationalismus – so die These von Mark Bassins in Berkeley entstandener Dissertation – eine besondere Faszination. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Amurgebiet dem Zarenreich einverleibt wurde, habe eine regelrechte nationalistische Euphorie (letztlich unerfüllbare) Erwartungen über die wirtschaftliche, strategische und symbolische Bedeutung des Flusses genährt und kurzzeitig „a major redirection of the nation’s interest" (S. 2) bewirkt. Der Amur galt nicht nur als eine natürliche Grenze Russlands und als der Schlüssel zur Öffnung des unzugänglichen Sibiriens, er schien der Weg zu sein, auf dem Russland als Zivilisationsträger in Ostasien über Europa hinauswachsen und zusammen mit den USA zu einer Macht von Weltdeutung im Mittelmeer der Zukunft, dem Pazifik, aufsteigen sollte.

Mit guten Gründen und Beispielen plädiert Bassin dafür, den russischen Nationalismus nicht auf die Konfrontation mit Europa zu reduzieren, sondern zusätzlich die Besonderheiten der expansiven, russländischen Reichsbildung östlich des Urals als prägenden Faktor zu untersuchen. Der Erhalt und die Erweiterung des Imperiums seien von Anfang an ein Wesensmerkmal des Nationalismus gewesen, und nicht erst der Panslavismus habe daraus ein imperialistisches Programm abgeleitet. Dies korrigiert nachdrücklich (ältere) geistesgeschichtliche Interpretationen des russischen Nationalismus als religionsphilosophische Absolutsetzung eines slavisch-bäuerlichen Volkes. Eine radikale Neudeutung beabsichtigt Bassin aber nicht. Sein Verdienst besteht darin, die imperiale Dimension des Nationalismus in einer detaillierten Fallstudie herauszuarbeiten. Als Geograph und Historiker verknüpft er chronologisch die Etappen der gelehrten Erkundung, militärischen Eroberung bzw. ökonomischen Durchdringung der fremden Amurregion mit der Rezeption dieser vielfältigen Erschließung und ihrer nationalistischen Interpretation.

Im Vordergrund steht demnach keine Analyse der zarischen Expansion im Fernen Osten, sondern die Frage, warum und wie sie zu einem Zentralthema des russischen Nationalismus werden konnte. Denn dass die Region allenfalls im Vergleich mit sibirischen Eiswüsten als russisches Kalifornien oder El Dorado gelten konnte, das war seit dem 17. Jahrhundert bekannt, als das Zarenreich kurzzeitig über dieses dünn besiedelte, kaum autarke Gebiet geherrscht hatte. Jahrzehntelang galt daher der Vertrag von Nerèinsk, in dem Russland 1689 das Gebiet an China hatte abtreten müssen, kaum als Niederlage oder nationale Schande. Dies änderte sich anderthalb Jahrhunderte später: Zum einen siegte Großbritannien im „Opiumkrieg" gegen China und verschob damit seine Interessensphäre bedrohlich nah an die Südostgrenze des Zarenreichs. Zum anderen entstand in der Debatte zwischen Slavophilen und Westlern eine innere, nationalistische Opposition gegen das Restaurationsregime Nikolajs I. Für sie war es gerade die inspirierende, exotische Ferne des Amur, die ihn gleichsam zu einer Projektionsfläche für ihre Vorstellungen von Russlands Zukunft und nationaler Größe werden ließ. Ein gut Teil dieser Erwartungen richtete sich auf den ambitiösen wie charismatischen Generalgouverneur von Ostsibirien, Nikolaj Murav’ev, der gegen das offizielle Petersburg auf eine Annexion des Amurgebiets drängte und dessen inoffizielle Erkundung protegierte. Mit der „Russischen Geographischen Gesellschaft" entstand 1845 eine Schnittstelle, die Murav’ev mit den Planern ziviler Reformen, militärischer und wissenschaftlicher Expeditionen, aber auch mit den intellektuellen Vordenkern des Nationalismus verband. Zur Tatsache und zum Auslöser weitergehender Spekulationen wurde die Herrschaft über den Amur und sein Mündungsgebiet aber erst, als der Krimkrieg auch die russische Pazifikküsten erreichte. Die erfolgreiche Verteidigung der Kamèatka-Festung Petropavlovsk durch Murav’ev kontrastierte mit den Misserfolgen im Schwarzen Meer und wirkte wie der Auftakt zu einer neuen geopolitischen Ära. Doch noch während die neuen Grenzen in Verträgen mit China festgeschrieben wurden (1858/60), wuchsen die Zweifel an dem Wert des „russischen Mississippi". Die Reformdiskussion, die nach dem Krimkrieg in Russland einsetzte, kam bereits ohne den Amur als Assoziationsträger aus.

Den Ausnahmecharakter der Amurbegeisterung zeichnet Bassin eingängig nach und erklärt ihn aus den besonderen Bedingungen des Nikolaitischen Russlands. Im Prinzip überzeugt diese These, wenn sie auch die borniert-reaktionären Züge des Zaren Nikolaj und dementsprechend den progressiv-oppositionellen Charakter der Amurexpansionisten überzeichnet. Doch fraglich bleibt vor allem, ob der Amur tatsächlich auch nur für kurze Zeit die Schlüsselrolle in den Entwürfen des russischen Nationalismus gespielt hat. Nirgends setzt Bassin das Thema in Bezug zu anderen Themen des Nationalismus, und seine Quellengrundlage – eher sporadisch als systematisch ausgewählte zeitgenössische Publizistik und veröffentlichte Regierungsakten – lässt solche Schlussfolgerungen auch gar nicht zu. So entgeht ihm, dass auf dem Höhepunkt der vermeintlichen Amureuphorie 1858/60 die beherrschenden Themen in der russischen Öffentlichkeit andere waren: die Leibeigenschaftsfrage, glasnost’ und Zensur, der italienische Nationalismus, überhaupt: Europa als Modell der für Russland visionierten Reformen. Thematisch fällt die Amurfrage nicht aus dem damaligen Genre der sog. „Enthüllungsliteratur" heraus, die anhand eines speziellen Einzelfalls moderate Kritik an den inneren Zuständen des Reichs üben durfte.

Gerade auf das Beispielhafte läuft aber auch die Argumentation von Bassin hinaus. Ihm geht es nicht darum, eine bestimmte, bislang untergewichtete Thematik allein in den Vordergrund zu stellen, sondern zu zeigen, wie und welche nationalistischen Vorstellungen ungeachtet ihrer Realitätsnähe die autokratische Politik beeinflussten. Die grundlegende Ambivalenz eines einerseits reformerischen und latent oppositionellen, andererseits imperialen und monarchistischen Nationalismus, der sich bald kühl-macchiavellistisch, bald naiv-messianistisch gibt – diese Ambivalenz ließe sich womöglich an anderen Fragen noch besser aufzeigen. Doch besitzt die marginale Amurthematik den Vorzug, den Eurozentrismus des russischen Nationalismus zu relativieren. Insofern weist das Buch Bassins über den Forschungsstand zu der von ihm behandelten Periode hinaus.

Andreas Renner, Löhne



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