Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Manuel Frey, Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürgerlicher Tugenden in Deutschland 1760-1860, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, 406 S., kart., 78 DM.

Das vorliegende Buch behandelt den Wandel von Reinlichkeitsvorstellungen in Deutschland zwischen früher und später Neuzeit. Dahinter steht die These, daß sich in Vorstellungen von Schmutz und Reinlichkeit Merkmale einer Gesellschaft, etwa soziale Grenzen und kollektive Bewußtseinslagen, spiegelten. Die Erforschung von Reinlichkeit soll insofern die Entwicklung »bürgerlicher Tugenden« verdeutlichen, und diese wiederum sollen die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin erklären. Aufkommen, Ziele, Durchsetzung und Verbreitung des Konzepts der Reinlichkeit stehen deshalb im Mittelpunkt der Untersuchung. Frey geht - abweichend vom im Titel angegebenen Zeitrahmen - in drei, chronologisch wie sachlich aufeinander folgenden Schritten vor. Im ersten Teil behandelt er Sauberkeitsnormen und -vorstellungen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft bis 1750. Konkret stehen medizinische und kirchliche »Gefahrenkonzepte« (S. 33) sowie bäuerliche, adlige und bürgerliche »Körperkulturen« (S. 54) im Blick. Im zweiten Teil geht es um den Wandel zwischen 1750 und 1830. Hier werden neue medizinische Ideen, Erziehungsprogramme der Aufklärung, Kulturformen und Reinlichkeitsvorstellungen in Bürgertum und Unterschichten angesprochen. Im dritten Teil schließlich geht es einmal um Reinlichkeit in der sozialen und politischen Praxis zwischen 1830 und 1850, bis hin zur Bedeutung der Cholera und zu städtischen Kanalisationssystemen, und sodann um traditionelle Werte und Verhaltensweisen in der ländlich-bäuerlichen Kultur um 1860.

Für die Zeit um 1750 konstatiert Frey drei verschiedene Modelle von »Körperkulturen«, denen er - in der Begrifflichkeit vor dem Hintergrund einer noch ständischen Gesellschaft etwas irritierend - »klassenspezifischen« Charakter zuschreibt (S. 54). In den ländlichen und städtischen Unterschichten sieht er einen unbefangenen Umgang mit Körper, Wasser und Schmutz, in den adligen Eliten einen Verzicht auf Reinigung durch Wasser, vielmehr eine Konzentration auf äußerliche Sauberkeit, im Stadtbürgertum eine Hinwendung zu Reinlichkeitsvorstellungen als Sparsamkeits- und Ordnungsidealen, die wiederum eine Orientierung an kollektiver Ordnung und kollektiver Reinigung ermöglichten. Nach 1750 setzte ein Wandlungsprozeß ein, den der Autor deduktiv einführt:

Er geht von den »Strukturen des Wandels« (S. 89) aus, nämlich von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, der Ausprägung neuer Kommunikationsweisen, der Bildung neuer Familienformen und der Durchsetzung staatlich-politischer Reformen. Damit in unlösbarem Zusammenhang sieht Frey neue medizinische Vorstellungen, die er als spezifisch bürgerlich versteht. Luft, Wasser und Haut wurden neu bewertet, und Reinlichkeit als Schlüsselbegriff war nicht nur Ausdruck eines neuen Körpergefühls, sondern eines »neuen Lebensstils« (S. 120). Die Mediziner wollten über die »Kontrolle der Köpfe« die »Normierung des Körpers« erreichen (S. 121), die Bürger entsprechend über die Körper die Köpfe der Menschen verpflichten. Reinlichkeit wurde demnach zum sozialen Ordnungsmodell. Als Beleg führt Frey die vielfältigen, nunmehr ausdifferenzierten Anstalten der Körperkontrolle, von den Schulen bis zu Krankenhäusern, auf. Neben Ärzten erscheinen deshalb auch andere expandierende Berufszweige wie Pädagogen als Motoren bürgerlicher Reinlichkeits- und damit Gesellschaftsvorstellungen. De facto bedeutete das eine Zweiteilung der Reinlichkeitskulturen um 1800:
Auf der einen Seite stand nun das Modell der Bürger, die im Bündnis mit dem Staat konsequenterweise die Unterschichten mit Reinlichkeit und zu Reinlichkeit erziehen wollten, um sie zugleich sozial und politisch zu disziplinieren. Auf der anderen Seite stand die beharrende Kultur der Unterschichten, welche die bürgerlichen Steuerungsversuche als Angriff auf ihre Werte und Lebensweisen verstehen mußten. In den Reaktionen auf die Cholera nach 1830 sowie im Ausbau der städtischen Wasserversorgung und Kanalisation zeigte sich die Durchsetzungskraft bürgerlicher Reinlichkeits-, Ordnungs- und Gesellschaftsvorstellungen, denen sich nur dort noch Hemmnisse und Widerstände entgegenstellten, wo bäuerliche Wirtschaftsformen und Mentalitäten dominierten.

Mit Ansatz und Ergebnissen des Buchs werden zwei grundlegende Fragen aufgeworfen. Zum einen ist zu diskutieren, ob Wesenszüge einer Gesellschaft tatsächlich über die »Reinlichkeit« erfaßt werden können, wie der Autor in der Einleitung betont. Nachvollziehbar ist die Verbindung von Reinlichkeit, Ordnung und Arbeitsamkeit als bürgerlichen Tugenden, welche die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsformation begleiteten. Doch scheint zweifelhaft, ob man Reinlichkeit zum »zentralen Grundmuster vieler Kulturen« (S. 13) erheben und damit suggerieren sollte, dass sich durch die Analyse von Reinlichkeitsnormen eine Gesellschaftsformation erschließen läßt. Das überfordert den Untersuchungsgegenstand, ganz abgesehen davon, daß man mit guten Argumenten zahlreiche andere Aspekte, vom Verfassungsverständnis bis zum Geschlechterverhältnis, zum Schlüssel gesellschaftlicher Formationen erklären könnte. Jedes Detail der Geschichte ist letztlich Ausdruck des Ganzen, der Ansatz birgt somit die Gefahr der Beliebigkeit. Zum anderen ist zu fragen, ob das vom Autor geschilderte Verlaufsmodell den tatsächlichen historischen Prozeß korrekt erfaßt. Hierzu ist in einer Rezension des Werkes (Robert Jütte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. 9. 1997) bereits überaus kritisch Stellung bezogen worden. Trotz der manchmal deduktiv und teleologisch anmutenden Vorgehensweise des Buchs wirkt Jüttes Kritik indes überzogen. Grundsätzlich ist durchaus überzeugend, daß und wie Frey die systematische Analyse von Begriffen und Ideen mit sozialhistorischen Prozessen verbindet, denn keine kulturalistische Relativierung kann die säkularen Modernisierungsprozesse und die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft seit etwa 1750 hinwegdiskutieren. Der modernisierungstheoretische Ansatz des Buchs ist deshalb sinnvoll und ergiebig, und der innovative Versuch, die Anbindung des im 18. Jahrhundert einsetzenden Wandels an die Urbanisierungsanfänge des 19. Jahrhunderts und deren hygienepolitischen Folgen zu finden, leuchtet gleichermaßen ein. Problematischer erscheint der Ansatz dort, wo die Gegenströmungen, hier präsentiert durch die bayerischen Physikatsberichte von 1860, bloß als Relikte bäuerlichen Beharrens in einer sich modernisierenden bürgerlichen Welt, als Residuen der Vormoderne, begriffen werden. Denn obwohl die bürgerliche Gesellschaft neue Reinlichkeitsideen propagierte, hieß das noch nicht, daß die Gesellschaft der Bürger sie auch praktizierte. Dies ist freilich nur schwer an Quellen nachzuprüfen. Ungeachtet dessen stellt das Buch eine in seiner Materialfülle überaus interessante, in seinen Fragestellungen anregende und in seinen Ergebnissen aufschlußreiche Studie zu einem bedeutsamen Aspekt kultureller Modernisierung in Deutschland dar.

Winfried Speitkamp, Gießen



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