Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Valentina Maria Stefanski, Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche im I.G. Farbenwerk (Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau 2), Verlag Fibre, Osnabrück 2000, kart., 585 S., 48 DM.

Die aktuelle Diskussion um die Entschädigung der Zwangsarbeiter im „Dritten Reich" macht einmal mehr auch Lücken in der historiographischen Behandlung des Themas deutlich. Die politischen und ideologischen Grundlagen, die zur Verschleppung von Millionen von Menschen zum Dienst in der deutschen Kriegswirtschaft führten, sind weitgehend geklärt. Auch über die Einstellung der deutschen Bevölkerung den „Fremdarbeitern" gegenüber gibt es Untersuchungen. Dagegen wird die konkrete Lebenswirklichkeit der Zwangsarbeiter, über die aus den Akten nur indirekt etwas zu erfahren ist, erst in jüngster Zeit thematisiert. Die Untersuchung von Valentina Maria Stefanski, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut (DHI) Warschau, schildert das Schicksal ehemaliger polnischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die als Jugendliche ab 1941 im I.G. Farbenwerk Leverkusen bei der Produktion von chemischen Grundstoffen, Farbstoffen und Medikamenten eingesetzt waren.

Das Buch ist das Ergebnis eines seit 1994 laufenden Forschungsprojektes des DHI Warschau. Stefanski führte im Laufe eines knappen Jahres 46 Interviews und erreichte damit die „physischen und psychischen Grenzen" (S. 8) ihrer Belastbarkeit. Denn die direkte Begegnung mit den Opfern der nationalsozialistischen Politik bedeutet eine weit stärkere emotionale Belastung als jedes Aktenstudium. Dennoch besteht die Notwendigkeit, die Interviews geeigneten Methoden der Quellenkritik zu unterwerfen. Bei Stefanski geschieht dies durch die hohe Anzahl der herangezogenen Gespräche und durch das Darstellungsprinzip des Perspektivenwechsels. Die Aussagen der Interviewpartner werden nicht nur durch die Angaben in den anderen Interviews, sondern, wo immer möglich, durch Dokumente vor allem aus dem Bayer-Archiv in Leverkusen bestätigt, korrigiert oder falsifiziert. Dabei erweisen sich die Interviews bei exakten Angaben (Daten, Orte, Personen) als erstaunlich genau. Lebensgeschichtliche Erinnerungen sind eben doch mehr als reine Konstrukte, wie die Erzählpsychologie gemeinhin annimmt. Sie lassen sich vielmehr als spezifische Quelle auch den Erkenntnisinteressen der Historiker nutzbar machen. Sie zeigen, wie sich die politischen Entscheidungen auf das konkrete Leben ausgewirkt haben und welche Spielräume es für die Betroffenen gab.

Stefanski behandelt die verschiedenen Wege nach Leverkusen, die Arbeitsbedingungen, die Erfüllung von Grundbedürfnissen (Wohnen, Ernährung, Kleidung, Gesundheit), Bewachung und Bestrafung, Fluchtversuche, Kriegsende und Leben im inzwischen kommunistischen Polen nach der Rückkehr. Auch Tabuthemen wie die freiwillige Meldung zum Arbeitseinsatz oder Liebe und Sexualität werden behandelt. Beispielsweise findet Stefanski keine Hinweise auf die in der Literatur oftmals vermuteten Lagerbordelle, schränkt diese Angaben aber mit dem Hinweis auf andere Aussagen in älteren Befragungsstudien und die Zusammensetzung ihres Samples ein. Denn die von ihr Befragten waren mehrheitlich als Jugendliche im Alter von 15 bis 22 Jahren nach Deutschland verschleppt worden und hatten von daher einen anderen Erfahrungshorizont als die Älteren. Über Verliebtsein im Lager wird vorwiegend dann berichtet, wenn diese Beziehung die Kriegszeit überdauert hatte.

Aus den vielen kleinen Erzählungen wird deutlich, wie sehr der Alltag von Zufälligkeiten abhängig war: Ein hilfsbereiter Vorgesetzter im Labor sorgte für zusätzliche Essensrationen, andere dagegen beschimpften und schlugen die Zwangsarbeiter ohne Grund. Die Berichte der Überlebenden erlauben auch Einblicke in den Alltag der deutschen Bevölkerung, denn in der arbeitsfreien Zeit verließen viele das Lager, um sich illegal etwas dazuzuverdienen oder auch um ein Café oder Kino zu besuchen. Dafür wurde das vorgeschriebene „P"-Abzeichen an der Kleidung mit vielerlei Tricks verborgen oder entfernt.

Im abschließenden Kapitel zeigt Stefanski, dass die Zeit des „Leidens und Lernens in Leverkusen" den späteren Lebensweg der Befragten entscheidend geprägt hat. Einige werden bis heute von dem Erlebten verfolgt, die meisten aber sehen die Erfahrungen, die sie als Zwangsarbeiter in Deutschland machen mussten, rückblickend als durchaus hilfreich an. Sie wurden zu einem frühen Erwachsensein gezwungen und hatten nach ihrer Rückkehr ihren Altersgenossen eine größere Anpassungsfähigkeit, bessere Risikoabwägung und höhere Durchsetzungsfähigkeit voraus. Die Erlebnisse in der deutschen Diktatur erleichterten ihnen das Zurechtfinden in der polnischen. Neben dieser überzeugenden individualpsychologischen Interpretation wäre aber auch die Frage interessant, was die Lebenswirklichkeit der Zwangsarbeiter für das Funktionieren des nationalsozialistischen Systems bedeutete. Waren die vielen heimlichen oder geduldeten Abweichungen von den Vorschriften dysfunktional oder notwendig für die Durchführung des Zwangsarbeitsprogramms? Welche Auswirkungen hatten die häufigen informellen Kontakte der Deutschen mit ihren ausländischen Arbeitskollegen? Konnte an den ausländischen „Kollegen" Unmut abgelassen werden, der sich sonst auf die Machthaber gerichtet hätte? Oder trug die Konfrontation mit der Behandlung der Zwangsarbeiter dazu bei, die Propaganda durchschaubarer zu machen? Erst wenn derartige Fragestellungen, die für Oral-History-Projekte mit deutschen Befragten eine zentrale Rolle spielen, auch in Untersuchungen mit ausländischen ehemaligen Zwangsarbeitern und KZ-Insassen in den Mittelpunkt rücken, können die aufwändigen Interviewprojekte zu wegweisenden Forschungsbeiträgen werden. Noch sehen zu viele Historiker in derartigen Studien lediglich einen Akt der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern.

Das Buch enthält insgesamt vierzig Fotos, die überwiegend aus dem Privatbesitz der Befragten stammen. Man hätte sich noch mehr davon gewünscht, denn aus der Nummerierung der Aufnahmen geht hervor, dass einige Befragte mehr als zwanzig Fotos überlassen haben. Im Anhang sind zu Kontrollzwecken alle zitierten Interviewauszüge im polnischen Original abgedruckt. Das Personenregister umfasst zwei Teile: im ersten werden Personen erfasst, von denen der Nachname bekannt ist, während der zweite Personen enthält, von denen die Befragten nur den Vornamen wissen. Eine nähere Erklärung hätte man sich zur Kategorie der „Ukrainer" gewünscht. Wer ist damit gemeint, wenn die deutschen Quellen diesen Begriff benutzen? Westukrainer aus bis 1939 polnischem Gebiet oder Sowjetbürger? Und meinen die Befragten, wenn sie von „Ukrainern" sprechen, dieselbe Personengruppe?

Die Arbeit von Stefanski setzt insgesamt Maßstäbe für die Behandlung des Themas „Zwangsarbeit" aus Sicht der Betroffenen. Die Gegenüberstellung der Aussagen aus den Interviews mit den Inhalten der Akten des Bayer-Archivs trägt auch entscheidend zur Einschätzung der Aussagekraft der Aktenüberlieferung bei. Man wünscht sich mehr derartiger Studien, um fundiertes Material für eine ausstehende Synthese über osteuropäische Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus zu schaffen.

Jens Binner, Hannover



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