Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Christian Berringer, Sozialpolitik in der Weltwirtschaftskrise. Die Arbeitslosenversicherungspolitik in Deutschland und Großbritannnien im Vergleich 1928-1934 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 54), Verlag Duncker & Humblot, Berlin 1999, 521 S., 148 DM.

Christian Berringer untersucht in seiner historisch-komparatistisch angelegten Studie Grundlagen, Wege und Ergebnisse der Arbeitslosenversicherungspolitik in Deutschland und Großbritannien. Den Schwerpunkt legt er auf die Jahre 1928 bis 1934 und damit auf eine Phase äußerster wirtschaftlicher, sozialer und politischer Spannungen. Berringer will die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen analysieren sowie Akteure und Handlungsebenen differenzieren.

In beiden Ländern setzte die Rüstungsindustrie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Arbeitskräfte frei, darüber hinaus mussten heimkehrende Soldaten in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt reintegriert werden. Beide Systeme wurden bereits einige Jahre später strukturell und finanziell durch die Weltwirtschaftskrise überfordert. Das Ausmaß und die Dauer der Arbeitslosigkeit traf die Verantwortlichen völlig unvorbereitet. Massiver Arbeitsplatzabbau setzte allerdings in Großbritannien schon vor der Weltwirtschaftskrise ein. Großbritannien diskutierte das Phänomen Arbeitslosigkeit unter der Fragestellung "alte und neue Industrien", besonders betroffen waren die älteren Industrien bzw. die Branchen Textil sowie Eisen- und Stahl.

In der Weimarer Republik erfasste die Arbeitslosigkeit dagegen fast alle Industriezweige. Ausnahmen waren wie in Großbritannien die Wachstumsbereiche Handel, Dienstleistung und Fahrzeugbau. Die Arbeitslosigkeit wurde konjunkturell und saisonal erklärt. Sowohl in Deutschland wie in Großbritannien war die Arbeitslosigkeit in stark industrialisierten Regionen wie etwa Wales oder Nordirland bzw. Sachsen, Schlesien, Berlin/Brandenburg und dem Rheinland besonders hoch. Frauen waren von Arbeitslosigkeit weniger betroffen als Männer. In Deutschland blieb auch die Gruppe der Angestellten nicht von massiver Arbeitslosigkeit verschont.

Die Statistik als wichtiges planerisches Instrument hinkte der Entwicklung der Gesamtarbeitslosigkeit in Deutschland hinterher, da anfangs die Zusammenstellung unkoordiniert über die kommunalen Spitzenverbände erfolgte.

Die Entwicklung der Arbeitslosenversicherung in der Weimarer Republik ist durch ein klares Primat finanzpolitischer Entscheidungsvorbehalte geprägt. In geradezu beispielloser Weise drang das Finanzressort konzeptionell in die Entscheidungskompetenz des ohnehin nur teilweise zuständigen Arbeitsministeriums ein. Parallel zur Aushöhlung des Fachressorts erkennt Berringer ein Zurückdrängen der Interessenverbände. Die Arbeitslosenversicherung bleibt der staatlichen Exekutive, d. h. dem Finanzressort vorbehalten. Das 1919 geschaffene Arbeitsministerium war von Anfang an einer starken Kritik von DNVP und Arbeitgeberverbänden ausgesetzt. Auch in Großbritannien blieb das Ministry of Labour, von einer Ministerin geführt, in einer eher schwachen Position und besaß gleichfalls nicht die Gesamtkompetenz für den Arbeitsmarkt.

Zur Aushöhlung der Ressortkompetenz des Reichsarbeitsministeriums kommt eine nach Berringers Einschätzung erstaunlich schwache Selbstverwaltung. Berringer sieht die Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung lediglich als eine ausführende Verwaltung. So nutzten die Gewerkschaften die ohnhehin eingeschränkten Selbstverwaltungsrechte nur zögerlich, weil sie letztlich nicht die Verschlechterung der Versicherungsbedingungen mitverantworten wollten. Die Reichsanstalt war mit der Aufnahme eines Darlehens beim Reich seit 1929 deutlich geschwächt.

Die englischen Gewerkschaften, die in kein vergleichbares System der Selbstverwaltung eingebunden waren, forderten eine steuerfinanzierte Arbeitslosenversicherung. Unter der Dominanz des deutschen Finanzministeriums wurden viele Arbeitslose aus der Arbeitslosenversicherung über die Krisenunterstützung in die kommunale Fürsorge ausgegliedert. Damit wurden die finanziellen Lasten auf die Gemeinden übertragen. Eine massive Zentralisierung und Bürokratisierung begleitet diesen Prozess, der zugleich das Ungleichgewicht zwischen administrativer und fiskalischer Verantwortung unterstreicht. Die fiskalische Verantwortung schob der Zentralstaat auf die Kommunen, dies wurde auch offen von Arbeitsminister Schäffer im Kabinett von Papen so ausgesprochen - die Unterstützung für die Arbeitslosen sei Aufgabe der Gemeinden. Die Kommunen zahlten über die Fürsorge in immer höherem Maße die Kosten der Arbeitslosigkeit. Erst durch das Kabinett Brüning erhielten sie ein Mitspracherecht im Vorstand der Reichsanstalt. Obwohl die kommunale Unterstützungsaufgabe materiell im Mittelpunkt stand, blieben die kommunalen Mitgestaltungsmöglichkeiten rudimentär. Sozialpolitisch führte dies zu einer Erosion des Versicherungsprinzips wie zur Aussteuerung bestimmter Risiken. Die Mehrzahl der Arbeitslosen wurde in die Fürsorge gedrängt. Der Kreis der Versicherungspflichtigen wurde reduziert. Verheiratete Frauen und Jugendliche und vor allem Saisonarbeiter wurden aus der Versicherungspflicht herausgedrängt. Typisch für die politischen Rahmenbedingungen wie für den Prozess der Aushöhlung des Versicherungsprinzips war eine Politik hektischer Korrekturen. So wurden in Deutschland ab 1929 teilweise mehrmals jährlich die Versicherungsbedingungen modifiziert. Die bereits bei der Einführung der Arbeitslosigkeit bestehenden Akzeptanzdefizite wurden bestätigt.

Im Unterschied zu Deutschland ist in Großbritannien das Versicherungsprinzip auch bei den Arbeitgebern stärker verankert gewesen. Insofern gab es nur Tendenzen zur Zurückdrängung des Versicherungsprinzips, eine Übertragung der fiskalischen Verantwortung zu Lasten der Kommunen fand nicht statt, die staatliche Verantwortung für die Unterstützung der Arbeitslosen wurde bestätigt, die Ausgrenzung bestimmter Gesellschafts- und Berufsgruppen aus der Arbeitslosenunterstützung war ebenso deutlich schwächer. Insofern ist in Großbritannien kein fiskalpolitisch dominierter Aktionismus zu beobachten, die Versicherungsbedingungen zu ändern, seit Anfang der 1930er Jahre gab es vier intensive Eingriffe. Angesichts vergleichbarer Probleme erfolgten Leistungsreduktionen in Großbritannien später und moderater, ohne jedoch die staatliche Verantwortung aufzugeben. Die Identifikation mit dem System war in Großbritannien eindeutig stärker. Die Arbeitslosenversicherung wurde in ihrer Existenz nicht in Frage gestellt, über ihre Durchführung aber heftig gestritten.

Trotz sozialer Not existierte in der deutschen Öffentlichkeit und gerade bei Unternehmern die Vorstellung vom arbeitsunwilligen Arbeitslosen. Die Wirtschaft sah in der Arbeitslosenversicherung eine unnötige Belastung, die unternehmerisches Wachstum behinderte. Solch monokausale Interpretationsmuster blieben nicht auf die Wirtschaft beschränkt- in bürgerlichen Kreisen wie in der Wirtschaft setzte sich die Überzeugung durch, die Arbeitslosenversicherung sei für die Finanzkrise des Reiches verantwortlich.

Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Dissertation Christian Berringers ist eine profunde wissenschaftliche Leistung. Sie markiert einen deutlichen Erkenntnisfortschritt. Gleichwohl wünscht sich der Leser gelegentlich eine straffere Gliederung, vor allem einen flüssigeren und lesefreundlicheren Stil wie auch eine stärkere Einbindung in den Gesamtkontext der Weimarer Republik. Auch zumindest ein Personenindex darf der Leser erwarten, wenn schon kein Sachindex geboten wird. Berringers Studie analysiert u. a. das Scheitern der Weimarer Politik in der Frage der Arbeitslosenversicherungspolitik. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Beispielsweise die erwähnte Dominanz des Finanzressorts über den politischen Entscheidungsprozess, der nur schwache Gewerkschaften gegenüberstanden; aktionistische Reformen, Reformen, die sich darauf konzentrierten, fiskalische Verantwortung auf die Kommunen abzuwälzen. Die Ähnlichkeiten von Berringers Analyse zu aktuellen Politikansätzen im Bereich Verwaltungsreform oder Reform sozialer Sicherungssysteme sollte die Akteure zum Nachdenken anregen und unterstreicht, dass entsprechende Spezialstudien nicht nur für Wissenschaftler eine notwendige wie anregende Lektüre sein können.

Hans-Christian Herrmann, Dresden



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