Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bogdan Musial, „Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941, Verlag Propyläen, Berlin, München 2000, 349 S., geb., 39,80 DM.

Der deutsche Holocaust-Forscher legt hier umfassende Forschungen zu den Ereignissen in Ostpolen vor, die vom Beginn der sowjetischen Besetzung Ende September 1939 bis zu deren Ablösung durch die deutschen Eroberer im Sommer 1941 reichen. Als ehemaliger polnischer Staatsbürger ist er Mittler zwischen der deutschen und polnischen Historiographie, die sich in den letzten zehn Jahren auf wichtigen Feldern der Zeitgeschichte nähergekommen sind. Polen sehen sich zu Recht in gleicher Weise als Opfer von Hitler und Stalin. Während die Zeit der deutschen Okkupation seit langem relativ gut erforscht ist, weil sich damit ein zentrales politisches Interesse der kommunistischen „Volksrepublik" verband, blieb der stalinistische Terror der Jahre 1939-41 weitgehend eine terra inkognita. Hier hat sich in den letzten Jahren ein neuer Schwerpunkt polnischer Historiographie entwickelt, deren Ergebnisse aber in Deutschland außerhalb der engeren Fachwelt bislang kaum zur Kenntnis genommen worden sind. Dabei mag es sich nicht zuletzt um Nachwehen des Kalten Krieges handeln. Nicht wenige Westdeutsche hatten wohl stillschweigend die frühere sowjetische These akzeptiert, dass der Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen ein weitgehend legitimer Akt gewesen ist, der – abgesehen vom Massenmord in Katyn – auch dem Schutz der Bevölkerung vor der Nazi-Vernichtungspolitik gedient hat. Außerdem blieb der Zugang zu Quellen und Zeitzeugen in jenen Regionen, die heute unverändert zu Litauen, Weißrussland und der Ukraine gehören, bis vor kurzem versperrt.

Das ehemalige Ostpolen hat im 20. Jahrhundert ein wohl einzigartiges Schicksal gehabt. Der Vergleich mit dem Elsass trägt schon deshalb nicht, weil die polnische Bevölkerung zwar die größte Gruppe, aber nicht die Mehrheit stellte. Sechs unterschiedliche politische Zugehörigkeiten und Besetzungen trafen ein bitterarmes multi-ethnisches Land mit tiefgreifenden religiösen, nationalistischen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten. Musial skizziert im ersten Abschnitt kurz die sowjetische Besatzungspolitik bis zum Juni 1941, die durch massiven Terror gekennzeichnet war. Weil die einzelnen ethnischen Gruppen diesem aber nicht in gleicher Weise ausgesetzt gewesen sind, verstärkten sich zwangsläufig die Konflikte. Am stärksten waren die Polen als ehemaliges Staatsvolk betroffen. Besonders prekär war auch die Situation für die kleine jüdische Minderheit. Sie erhielt durch die Sowjetisierung Chancen, ihren Einfluss und ihre Stellung zu verbessern, geriet damit aber bei der Mehrheit der antikommunistischen Mitbürger in Verdacht, Handlanger der sowjetischen Besatzer zu sein.

Musials Studie konzentriert sich im zweiten Abschnitt auf die Verbrechen des NKVD im Sommer 1941, als nach dem Beginn des deutschen Überfalls in den sowjetischen Gefängnissen ein brutaler Massenmord an bis zu 30.000 politischen Gefangenen inszeniert wurde. Da eine Evakuierung nicht möglich schien, wollte man den Deutschen die Aktivisten der ukrainischen und polnischen Bewegung nicht lebend in die Hände fallen lassen. Dabei dachten die Nazis keineswegs daran, diese nationalen Bestrebungen zu fördern. Sie bedienten sich ihrer lediglich, um Kommunisten und Juden zu vernichten. Das Rachebedürfnis der stalinistischen Opfer und ihrer Angehörigen wurde von den Deutschen instrumentalisiert, um die geplanten Pogrome und Massenmorde zu legitimieren. Die Vergeltungsaktionen von ukrainischen Milizen, die mit den Deutschen kollaborierten, gerieten zur Kommunistenhatz. Und weil man die jüdischen Mitbürger pauschal verdächtigte, wurden sie zu bevorzugten Opfern. Zwar richtete sich der Hass auch gegen einzelne Polen, doch hier schritten die deutschen Besatzer ein und verhinderten ein Ausufern der Übergriffe.

Musial widmet sich bei seiner Untersuchung besonders der problematischen Situation der jüdischen Bewohner. Unter ihnen gab es wahrscheinlich mehr Opfer der stalinistischen Verfolgungen als Anhänger des Sowjetregimes, dennoch hatten die antisemitischen Vorurteile zu einer weitgehenden Entsolidarisierung geführt. Seine zentrale Fragestellung, ob und auf welche Weise sich die sowjetischen Verbrechen im Sommer 1941 auf die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges und auf die Radikalisierung der NS-Judenverfolgung ausgewirkt haben, versucht er differenziert und nüchtern zu beantworten. Den Hauptteil seines Buches bildet die Schilderung der Umstände, unter denen die sowjetischen Verbrechen aufgedeckt worden sind. Neben der Exhumierung der Leichen und den nachfolgenden Pogromen widmet sich der Autor speziell den deutschen Reaktionen. Das betrifft die NS-Propaganda, die die Vorfälle weidlich ausschlachtete, und die Reaktion deutscher Soldaten auf die Konfrontation mit Leichenbergen, unter denen sich auch kriegsgefangene Kameraden befanden, sowie den Maßnahmen der Wehrmachtführung und der Einsatzgruppen der SS.

Neben den zahlreichen Dokumenten aus deutschen und polnischen Archiven, unter denen die Aufzeichnungen jüdischer Zeitzeugen von besonderer Bedeutung sind, hat Musial eine Fülle von aktuellen Interviews mit Zeitzeugen der verschiedenen Gruppen verwendet. Zu Recht weist er auf die Problematik solcher Befragungen hin, kann aber darauf bauen, dass die oral history inzwischen eine bewährte Methode der Geschichtswissenschaft darstellt. Im Übrigen hat er sich um die Verifizierung der Augenzeugenberichte bemüht. Tatortbesichtigungen halfen, Details der Vorgänge zu klären.

Musial sah sich bei seiner schwierigen und zeitaufwendigen Arbeit durch Widerstände sowohl in Polen als auch in Deutschland behindert. So beklagt er einerseits den Einfluss der Postkommunisten in Warschau, die kein Interesse an der kritischen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit haben. Zum anderen sieht er in Deutschland eine emotionale Betroffenheit durch die NS-Vergangenheit, die es erschwert, über stalinistische Verbrechen zu diskutieren, ohne sich dem Vorwurf der Relativierung der NS-Verbrechen auszusetzen. Bei Vorarbeiten zu seiner Studie hatte er entdeckt, dass Photos von den sowjetischen Verbrechen bei der umstrittenen Reemtsma-Ausstellung als Nachweis für Verbrechen der Wehrmacht verwendet worden waren. Seine öffentliche Kritik hat 1999 entscheidend dazu beigetragen, dass die Ausstellung zurückgezogen werden musste. Heftige Anfeindungen und Verleumdungen von Anhängern des Hamburger „Aufklärungs"-Projekts wirken noch heute gegen Musial nach. Seine wissenschaftliche Arbeit, die ja nur eine Momentaufnahme von der Ostfront 1941 darstellt, hat in einigen Medien eine teilweise polemisch-kritische Aufnahme gefunden. Es wurde behauptet, hier habe sich der Kritiker Reemtsmas entlarvt, in dem er selbst einseitige Urteile und Pauschalisierungen vornehme. Die Aussagen von Zeitzeugen über die Rolle der jüdischen Kommunisten seien nicht überprüft. Musial habe mit seiner Darstellung die Opfer zu Tätern gemacht und den Kommunisten in Ostpolen eine Mitschuld am Holocaust gegeben.

Dabei hat Musial keinen Zweifel über den Charakter der deutschen Kriegführung zugelassen. Manche seiner Kritiker wollen ihn offenbar in dieser Hinsicht missverstehen. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. Dass der Völkermord an den Juden beschlossene Sache gewesen ist, bevor die Deutschen die sowjetischen Verbrechen entdeckten, steht – was die NS-Führung betrifft – außer Frage. Die neuere Holocaust-Forschung hat allerdings deutlich gemacht, dass es entgegen manchen früheren Einschätzungen kein von Anfang an fest umrissenes Mordprogramm gegeben hat, sondern dass sich im Sommer und Herbst 1941 ein Radikalisierungsprozess entwickelte, bei dem lokalen Initiativen große Bedeutung zukam. In seiner jüngsten Hitler-Biographie hat Ian Kershaw diese Funktionsweise auf die Formel gebracht: „dem Führer entgegenarbeiten". Auf welche Weise die stalinistischen Massenmorde den Holocaust beeinflusst oder auch nur die Bereitschaft deutscher Soldaten gefördert haben, sich an Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung zu beteiligen, ist also eine höchst interessante, gleichwohl aber schwer zu beantwortende Frage.

Bei allem Bemühen, hier differenziert und vorsichtig abwägend zu argumentieren, hat Musial in seiner dann wieder eher zuspitzenden Zusammenfassung keine abschließende Antwort geben können. Wenn seine Kritiker ein Ausweichen ins Nebulöse oder Widersprüche monieren, dann sollte Musials Verdienst, auf diesem schwierigen Feld einen wichtigen Anstoß für die wissenschaftliche Forschung gegeben zu haben, nicht übergangen werden. Nicht zuletzt ist dieses Buch in seiner gut lesbaren und dokumentierten Darstellung geeignet, die oft verengte deutsche Sichtweise auf das Schicksal der Bevölkerung in Ostmitteleuropa, die unter zwei blutrünstigen Diktaturen gelitten hat, zu erweitern.

Rolf-Dieter Müller, Potsdam



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