Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bertrand Taithe, Defeated Flesh. Welfare, warfare and the making of modern France. Manchester University Press, Manchester 1999, XII, 292 S., geb., 49 £.

Eine Medizingeschichte des Krieges von 1870/71 und der Kommune mag auf den ersten Blick nicht jeden Leser interessieren – zu groß scheint der Gegensatz von „warfare" und „welfare". Bertrand Taithes faszinierendes Buch zeigt jedoch, wie fruchtbar dieser Ansatz sein kann, um zu entdecken, wie Krieg, Niederlage und Bürgerkrieg gelebt und erinnert wurden. Sein Thema ist die körperliche, leibhaftige Erfahrung des Krieges durch die Bevölkerung der belagerten Stadt Paris und die Art und Weise, wie der Krieg in der Erinnerung als Niederlage des Fleisches dargestellt wurde, verursacht durch die körperliche Schwäche, den Verfall, die Dekadenz der Nation. In beiden Fällen kommt der Medizin eine Schlüsselrolle zu: für die Versorgung und Verpflegung der verwundeten Soldaten, der kranken und hungernden Menschen von Paris und für die Entwicklung eines Diskurses, der die Ereignisse von 1870/71 in medizinischen Kategorien beschreibt und schließlich das politische Denken formt.

Taithe ist nicht nur Medizinhistoriker, er bringt auch aufgrund seiner eigenen Biographie eine intime Vertrautheit mit dem französischen Militär und Verständnis für militärische und verwaltungstechnische Probleme mit. Beeindruckend ist aber vor allem seine umfassende Kenntnis des „Année terrible", gestützt auf eine stupende Quellenbasis – das Literaturverzeichnis umfasst 44 Seiten, davon die Hälfte gedruckte Quellen. Als Einstieg in sein Thema wählt Taithe denn auch eine ausführliche Quellenkritik, die Aufschluss darüber gibt, welche Bedeutung diesem Krieg in der individuellen Erinnerung und im Gedächtnis der Nation zugeschrieben wurde. Das zweite Kapitel gibt einen sehr hilfreichen Überblick über den Stand der historischen Forschung zum deutsch-französischen Krieg und zur Kommune.

Für seine eigene Fragestellung kombiniert Taithe intelligente und überzeugende Diskursanalysen mit den Methoden der Sozial- und Alltagsgeschichte. Sorgsam rekonstruierte Statistiken und faktenreiche Darstellungen informieren den Leser über Rationierung, Konservierung, Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln, über Ersatznahrung und Alkoholkonsum, Morbidität und Mortalität. Die Schilderung der Kälte und Dunkelheit im belagerten Paris gibt einen lebhaften Eindruck von der Belagerung einer Zwei-Millionen-Stadt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Wer je die Lebensmittelbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg studiert hat, kann ermessen, was es heißt, eine solche Stadt zu verwalten und zu versorgen, und wie sehr die Fähigkeit der neuen Regierung, für die Bürger zu sorgen, zum Maßstab ihrer Effizienz und zur Basis ihrer Legitimität wurde. Die ohnehin auf schwankenden Füßen stehende Republik war mit dieser neuen Rolle und mit den Erwartungen der Bürger überfordert. In der Verlagerung der Kompetenzen für die Lebensmittelversorgung auf die Arrondissements, dem Hass auf die satten Bürger, den der Kampf um Lebensmittelrationen verschärfte, sieht Taithe Grundlagen für den Aufstand der Kommune gelegt.

So wie Taithe „hunger and appetite as political issues" behandelt, betrachtet er auch die Verwandlung von Paris in ein riesiges Hospital, das Neben- und Gegeneinander von Militärärzten, städtischen Krankenhäusern und von ehrenamtlichen Helfern organisierten Ambulanzen als politische Frage. Die Mobilisierung einer Gesellschaft für den Krieg, hier dargestellt am Beispiel des Gesundheitssektors, bedingt eine Neudefinition der sozialen und politischen Ordnung, die gleichzeitig als Chance für Reformen begriffen werden kann. Die Konflikte in der Ärzteschaft spiegeln diese revolutionäre Situation. Zwar vermag Taithe die konkrete politische Rolle der Ärzte z.B. für das Scheitern der von Ferry unternommenen Reform der Assistance publique oder während der Kommune nicht immer ganz schlüssig darzustellen. Der Einfluss der Ärzte aber auf das politische Denken, die politische Analyse der Pariser Ereignisse ist nicht zu leugnen. Mediziner prägen den Topos vom „fievre obsidionale", der den Zustand der Pariser Bevölkerung als fieberhafte Erhitzung bezeichnet, die Revolution als Krankheit, als „morbus democraticus". So kann die Versailler Regierung ihr Verhalten damit rechtfertigen, dass der fiebernde Patient unzurechnungsfähig ist. Eine ähnliche Rolle spielt der Vorwurf des überhöhten Alkoholkonsums der Verteidiger von Paris; ein Vorwurf, den zuerst Militärärzte erheben und der ein Leitmotiv der bürgerlichen Literatur über die Kommune wird. Die Revolutionäre erscheinen im wörtlichen und im übertragenen Sinne als Betrunkene. Taithe geht diesen Gerüchten im Detail nach, überprüft ihren Tatsachengehalt und zeigt dann, wie das Gerücht funktionierte und welche Folgen es für die Politik des Ordre moral hatte.

In der Schilderung der kulturellen Folgen des Krieges liegt die eigentliche Stärke des Buches, weshalb die letzten drei Kapitel des Buches weit spannender sind als es die kenntnisreichste Darstellung der Gesundheitspolitik sein kann. So aufschlussreich die Analyse der sozialen Zusammensetzung des Roten Kreuzes auch ist, entscheidend ist doch, wie die von ihm begründete humanitäre Ideologie die Wahrnehmung des Krieges veränderte. Der Krieg von 1870/71 war der erste, in dem beide kriegsführenden Parteien die Genfer Konvention unterschrieben hatten, die die Neutralität der Ambulanzen und der Zivilbevölkerung garantierte. Sehr kritisch hebt Taithe den Konflikt zwischen diesem Konzept der Neutralität und der Praxis der Landesverteidigung in Form der „Levée en masse" hervor. Die Schilderung deutscher Gräueltaten ließ die Franzosen als Opfer des Krieges erscheinen, die Deutschen als Rechtsbrecher, die sich über völkerrechtliche Verträge hinwegsetzen und die Grundregeln der Humanität missachten. Der Humanitarismus machte aus der Brutalität des Krieges, jeden Krieges, einen Verstoß gegen die Regeln, ein Unrecht, ein Verbrechen, und zwar nicht ein Verbrechen einzelner Soldaten, sondern einer ganzen Nation oder Rasse. Im französischen Rechtsbewusstsein wurde der Krieg mit Preußen so ein Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei – eine Sichtweise, zu der die Belagerung und das Bombardement von Paris, der Krieg gegen Frauen und Kinder, natürlich das ihre beitrug.

Der Höhepunkt des Buches schließlich ist das 8. Kapitel, „Defeat embodied: the severed limbs of the nation". Vordergründig handelt es sich um eine rein medizinhistorische Fragestellung, die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der primären Amputation, der Entfernung eines verwundeten Gliedes noch auf dem Schlachtfeld, und den Verfechtern der konservierenden Chirurgie, des Versuches, jedes Körperteil zu erhalten, eine lange und teure Behandlung mit ungewissem Ausgang. Die Entscheidung zwischen diesen beiden chirurgischen Techniken ähnelte jedoch in nachgerade unheimlicher Weise der für Frankreich zentralen politischen Entscheidung: den Verlust eines Gliedes, einer Provinz hinzunehmen, einen schnellen, schmerzhaften Schnitt zu machen, und dann Frieden zu finden, oder unter allen Umständen weiterzukämpfen und auf ein Wunder zu hoffen. Taithe betont, dass die Verbindung zwischen beiden Fragen eine rein semantische war. Wer primäre Amputationen befürwortete, war deshalb kein Anhänger Thiers oder umgekehrt. Aber seine Zitate zeigen, wie die medizinische Diskussion in den allgemeinen Sprachgebrauch überging, wie die Amputation eine Metapher für eine lebensrettende politische Operation wurde und Thiers sich selbst als Chirurgen darstellte. Die Diagnose, die verwundeten Soldaten seien zu schwach für eine konservierende Therapie, wurde auf die geschlagene Armee, das Armeekorps, übertragen und auf die Nation, die in Frankreich sooft mit anthropomorphen Metaphern umschrieben wird.

Indem Taithe die Niederlage des Fleisches als sprachliches Konstrukt analysiert, das eine Erklärung für die Ereignisse von 1870/71 bot und zugleich von der Frage nach anderen Ursachen ablenkte, demonstriert er allen Reiz und alle Schwierigkeit von Sprachanalyse als historischer Methode. Zugleich leisten seine Überlegungen zum Vergessen und Erinnern einen wichtigen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte Frankreichs.

Sabine Rudischhauser, Schanghai



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