Archiv für Sozialgeschichte
Rezension






Die Staatssicherheit bildete neben der Partei eine zentrale Säule des Machtapparates des SED-Regimes. Sie war in allen gesellschaftlichen Bereichen präsent, kontrollierte Blockparteien und Massenorganisationen, Betriebe und Hochschulen, Staatsapparat, Wirtschaft und Kultur, sie observierte und terrorisierte mitunter auch die gesamte Bevölkerung. Ihr Wirkungsbereich beschränkte sich nicht auf die DDR, sondern auch auf das „Operationsgebiet", worunter das „feindliche" Ausland zu verstehen ist und dabei wiederum in erster Linie die Bundesrepublik. Hinsichtlich ihrer „operativen Arbeit" war die Stasi stets gesamtdeutsch orientiert, indem sie die politischen Verhältnisse im westlichen Teil Deutschlands nicht nur möglichst umfassend zu erkunden, sondern auch ihre Entwicklung in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchte.

Mehrere wichtige Veröffentlichungen haben in letzter Zeit die Arbeit und Wirkungsweise der Staatssicherheit im Westen wie in der DDR untersucht und über ihr Wirken umfangreiches Material zutage gefördert. Hubertus Knabes beide Veröffentlichungen untersuchen die Arbeit des MfS in der Bundesrepublik, gehen aber das Thema von unterschiedlichen Fragestellungen an. In der mit mehreren anderen Mitarbeitern der Gauck-Behörde erarbeiteten Studie „West-Arbeit des MfS" wird vor allem die Struktur der Staatssicherheit beleuchtet, die Aufgabenteilung zwischen der lange Zeit von Markus Wolf geleiteten HVA („Aufklärung") und der „regulären" Staatssicherheit, die sich selbst als „Abwehr" verstand. Überzeugend verweist die Studie die von Markus Wolf verbreitete Version einer vom Repressionsapparat des MfS weitgehend unabhängigen „Aufklärung", die sich auf die „saubere" und überdies intellektuell anspruchsvolle Rolle der Spionage beschränkt habe, ins Reich der Fabel. Beide Teilbereiche der Staatssicherheit, „Aufklärung" und „Abwehr", d.h. Spionage und Repression, waren engstens miteinander verzahnt, wenngleich die HVA aufgrund ihrer besonderen Aufgabenstellung natürlich in einigen Fragen eine Sonderrolle spielte. Diese enge Verzahnung wird rein organisatorisch daran erkennbar, dass manche der „Abwehr" unterstellten Bezirksverwaltungen Aufgaben der „Aufklärung" betrieben, während umgekehrt die HVA dieser zuarbeitete und informationelle und organisatorische Hilfe leistete.

Neben einer hilfreichen Einleitung über die inzwischen umfassende Literatur und über den aktuellen Forschungsstand widmet sich die Studie dem Wandel der Aufgaben und der damit verbundenen Einschätzungen der politischen Entwicklungen durch das MfS. Seiner mentalen Vorprägung gemäß gehörte es zu den Exponenten eines besonders konfrontativen Kurses gegenüber dem Westen und beurteilte zunächst auch die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel mit großem Misstrauen, obwohl sie der DDR die lang ersehnte internationale Anerkennung brachte. Nur langsam akzeptierte auch das MfS die Entspannungsphase der Siebzigerjahre und erkannte in ihr sogar Vorteile, da durch sie der innerdeutsche Kontakt und damit auch die Infiltration der Bundesrepublik erleichtert wurde. – An ausgewählten Beispielen untersucht die Studie Ziele, Organisation und Arbeitsweise der Westarbeit, Aufgabenschwerpunkte und Techniken ihrer Bearbeitung.

Die Verquickung von „Aufklärung" und „Abwehr" zeigte sich übrigens auch darin, dass die Repressionsarbeit in der DDR u.a. über die Aktivitäten des MfS im Westen lief. Der Kampf gegen Fluchthelfer, gegen die Flucht- und Ausreisebewegung bis hin zu Racheakten an abtrünnigen DDR-Funktionären stellten eine ins „Operationsgebiet" verlagerte interne Form der Systemerhaltung dar. Noch heute erschrecken Ausmaß und Form der partiellen Zusammenarbeit mit dem internationalen Terrorismus oder die nur lückenhaft erkennbaren, aber gleichwohl in Umrissen sich abzeichnenden Formen der Vorbereitung auf einen bewaffneten Konflikt mit dem Westen. Einzelkämpfer oder kleine Trupps von MfS-„Einsatzkadern" in Verbindung mit einheimischen „Patrioten" sollten im Spannungsfall hinter der Front Sabotageakte an lebenswichtigen Einrichtungen verüben, führende Politiker entführen oder sogar liquidieren, allgemeine Panik erzeugen und auf jede Weise den Vormarsch der NVA unterstützen. Geheime Waffenlager zwischen Nordsee und Schwarzwald und eine – bis jetzt allerdings geringe – Zahl von überführten (und inzwischen verurteilten) „Tschekisten" liefern Zeugnis von diesem gespenstischen Szenario, das glücklicherweise niemals Wirklichkeit wurde. – Die Studie beruht auf gründlicher Quellenarbeit und liefert dem Leser mit dem Textteil sowie mit dem Anhang, der das Thema mit Befehlen, konzeptionellen Papieren, Listen, „Planvorgaben" und anderen Dokumenten bis November 1989 illustriert, ein umfassendes Bild vom Wirken dieses Terrorapparates im Westen.






Die zweite Veröffentlichung von Hubertus Knabe – „Die unterwanderte Republik" – behandelt dieselbe Thematik mit anderer Akzentuierung, aber ohne dass Wiederholungen erkennbar sind. In ihr untersucht der Verfasser Umfang, Ausmaß und Wirkung der Westarbeit der Stasi in allen wichtigen Lebensbereichen Westdeutschlands. Es handelt sich also auf der Grundlage der bis jetzt bekannten und ausgewerteten Archivalien um eine Gesamtdarstellung der Einwirkungsversuche der DDR in der Bundesrepublik, bei der das handelnde Organ die Staatssicherheit war. Diese Versuche bezogen sich wiederum auf ein breites Spektrum von Ansatzpunkten. Einerseits betrieb das MfS umfangreiche Spionage und setzte hierzu neben hauptamtlichen „Kundschaftern" ein Heer von mehreren Tausend Inoffiziellen Mitarbeitern ein. Es gab kaum einen Bereich, der von derartigen Versuchen frei geblieben wäre: Staatsapparat und Parlamente, Parteien und Gewerkschaften, Wirtschaft, Kirchen und Presse, Hochschulen und Wissenschaft, die 1968er-Studentenbewegung und zahlreiche im öffentlichen Leben stehende Persönlichkeiten. Zwar war die Tatsache intensiver DDR-Spionage im Westen über Jahrzehnte bekannt, jedoch überrascht das heute sich abzeichnende Ausmaß.

Den besonderen Wert der Studie macht allerdings ein anderer, hier deutlich herausgearbeiteter Aspekt aus – die Versuche der Beeinflussung politischer und anderer Stellen durch Agenten des MfS. Weniger die reine Spionage, also die Beschaffung von Informationen aus politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Bereichen durch das MfS, ist für die Forschung von Interesse als vielmehr die Einwirkung auf konkrete Entscheidungen durch infiltrierte Inoffizielle Mitarbeiter. Sie lässt sich an einigen Beispielen besonders deutlich belegen – an der Beeinflussung der Studentenbewegung im DDR- bzw. DKP-Sinne in den Sechziger- und Siebzigerjahren und an der Friedensbewegung, die mit umfangreichen Mitteln, mit organisatorischer Hilfe, verdecktem und offenem publizistischem Beistand und nicht zuletzt durch tatkräftige Aktivisten unterstützt wurde. Verstärkte Einsatzgebiete der Stasi in der Bundesrepublik waren die Bereiche, die für das öffentliche Erscheinungsbild der DDR im Westen von Bedeutung waren: die Presse und vor allem die DDR-Forschung. Hier verstand es das MfS, Institute und Medien so zu unterwandern, dass Forschungsergebnisse und Presseartikel das Bild schönten, die desolate Wirtschaftslage der DDR durch das Bild vom „achtreichsten Land der Erde" ersetzten und Menschenrechtsverletzungen verharmlosten. In diesen Zusammenhang gehören auch die vom MfS inszenierten Intrigen gegen Kritiker im Westen, insbesondere gegen geflüchtete oder ausgebürgerte Dissidenten aus der DDR, und ihre weitgehend erfolgreiche Diffamierung als „kalte Krieger". Der Blick auf die DDR wurde durch die geschickte Immunisierung gegen Unrecht und Diktatur getrübt.

Knabe liefert eine breit angelegte Darstellung, die auf einer umfassenden Auswertung von Quellen beruht. In erster Linie sind dies die Akten des Bundesbeauftragten, aber auch Gerichtsurteile, veröffentlichte Selbstzeugnisse von Zeitzeugen (Opfer wie Täter) sowie auf gründlichem Literaturstudium. Er vermeidet Effekthascherei und sensationslüsterne Spekulationen, zu denen das Thema durchaus Gelegenheiten böte, und urteilt mit Vorsicht, wo die Quellen keine eindeutigen Aussagen gestatten. Er widerlegt Beschönigungen und Vertuschungen, wie sie regelmäßig von ehemaligen Tätern, allen voran Markus Wolf, in die Welt gesetzt werden. Knabe differenziert sorgfältig die unterschiedlichen Grade der Mitwirkung westdeutscher MfS-Partner, von denen manche – z.B. die sogenannten Kontaktpersonen – oftmals nicht einmal ahnten, in welchem Maße sie informationell „abgeschöpft" wurden. Diese wohltuende Zurückhaltung ist es, die in Verbindung mit solidem historischem Handwerk, analytischer Durchdringung des Stoffes und nicht zuletzt durch einen lesbaren Stil das Buch zu einem Standardwerk macht, an dem sich in der nächsten Zeit Neuerscheinungen über Inhalt und Umfang der Stasi-Aktivitäten im Westen werden messen müssen.

Großen Wert legte das MfS auf die Rekrutierung, Schulung und Führung seiner hauptamtlichen wie auch seiner inoffiziellen Mitarbeiter. Jeder Werbung ging ein langer Vorlauf voraus. Der Kandidat wurde observiert, kontaktiert und unter psychologisch geschickt ausgewählten Umständen immer stärker in das Netz der Staatssicherheit verstrickt. Druckmittel wie „Kompromittierung" (Erpressung) spielten – vor allem in der frühen DDR-Zeit – zwar auch eine Rolle, sollten jedoch für die letzten Jahrzehnte der DDR im Umfang nicht überbewertet werden. In der DDR bildeten berufliche Chancen, Studienplätze und andere Vergünstigungen verbreitete Motive für eine Verpflichtung. Wichtiger aber war die „Überzeugung", wogegen Geld als Mittel der Werbung in der DDR kaum erwähnenswert war. Im „Operationsgebiet", im Westen also, lagen die Verhältnisse etwas anders. Dort flossen mitunter beträchtliche Summen an erfolgreiche Mitarbeiter, jedoch in der Regel nur als Anerkennung für bereits vollbrachte „Verdienste". Sowohl in der DDR als auch im „Operationsgebiet" glitten die vorgesehenen Mitarbeiter also unmerklich, in vielen Fällen auch ohne Widerstand in die Fänge eines Apparates, aus denen man sich nur schwer befreien konnte.






Die von Helmut Müller-Enbergs herausgegebene zweibändige Dokumentation „Inoffizielle Mitarbeiter" veranschaulicht die Methoden der Rekrutierung und Führung von Agenten des MfS am Beispiel hausinterner Richtlinien, Durchführungsbestimmungen, Anleitungen und anderer Papiere aus vier Jahrzehnten. Müller-Enbergs verweist in den Einleitungen zu den Bänden auf die wechselnden Inhalte der Richtlinien, die gerade dadurch zu einem Spiegel der Zeitgeschichte wurden. Denn die jeweiligen Änderungen reflektierten Erfahrungen des MfS, aus denen die Stasi-Führung dann entsprechende Konsequenzen zog. Was angesichts der meist pedantisch und bürokratisch abgefassten Dokumente kaum zu vermuten wäre: sie bilden unter dem Blickwinkel der sich verändernden Arbeitsmethoden eine höchst spannende Lektüre, die Aufschluss gibt über die innenpolitische Entwicklung der DDR ebenso wie die innerdeutschen Beziehungen.

Während Band 1 den Einsatz von IM in der DDR dokumentiert und durch aufschlussreiche Quellentexte ergänzt, ist der etwa doppelt so umfangreiche Band 2 der West-Arbeit der Stasi gewidmet, im Wesentlichen also den Umtrieben der HVA im „Operationsgebiet". In seiner Einleitung liefert der Herausgeber eine Übersicht über die jetzige Quellenlage und skizziert sodann die zahlreichen „Funktionstypen" der Inoffiziellen Mitarbeiter, ihre Rekrutierung und Führung im Westen. Die Zahl der MfS-Agenten im Westen schätzt Müller-Enbergs auf 10.000, dazu 700 „Offiziere im besonderen Einsatz", weitere 1.550 westdeutsche „Kundschafter" im MfS-Auftrag und eine bislang noch unbekannte Zahl von ausländischen IM, denen ein Apparat von 3.300 hauptamtlichen HVA-Mitarbeitern gegenüberstand. Die Darstellung der Hauptverwaltung „Aufklärung" mit ihren zahlreichen Aufgabengebieten spiegelt das umfassende Spektrum der Stasi-Aktivitäten in der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern. Fast kein Gesellschaftsbereich von politischem Interesse in der Bundesrepublik blieb von versuchten und in vielen Fällen auch erfolgreichen Infiltrationsversuchen verschont. Die 32 Richtlinien, Durchführungsbestimmungen und MfS-amtlichen Kommentare dazu, die fast 700 Seiten des Bandes ausmachen, sind sorgfältig annotiert. Gelegentlich wirkt die Gründlichkeit dieser Bearbeitung schon etwas übertrieben, so etwa wenn allgemein bekannte Abkürzungen wie CDU, SPD, DDR, SED oder MfS zusätzlich zum ausführlichen Abkürzungsverzeichnis in jedem Dokument noch einmal aufgeschlüsselt werden. Ein Literaturverzeichnis, dazu Orts-, Personen- und Sachregister tragen dazu bei, die in beiden Bänden enthaltene Materialfülle zu erschließen. – Beide Bände der Dokumentation ebenso wie die einführenden Texte sind wichtige Grundlagen für weitere Forschungen über Aufgaben und Wirkungsweise der Staatssicherheit in beiden Teilen Deutschlands.






Apparate wie das MfS bestehen nicht nur aus anonymen Strukturen, sondern werden auch durch Persönlichkeiten geprägt. Wenngleich die Staatssicherheit nicht immer und ausschließlich durch Erich Mielke geführt und bestimmt wurde, so war er doch von Anfang an in führender Stellung dabei und von 1957 bis zu seinem Rücktritt im November 1989 Chef einer der größten Geheimpolizeien in der Geschichte überhaupt. Die von Wilfriede Otto verfasste Biographie zeichnet den Werdegang dieses einerseits farblosen, andererseits durch seine Verwicklung in jahrzehntelange historische Prozesse doch bemerkenswerten Apparatschiks nach. Aus proletarischer, vom Kommunismus überzeugter Familie aus dem Berliner Wedding stammend, war sein Weg in die KPD vorgezeichnet. Weder ein brillanter Theoretiker noch ein mitreißender Redner, zeichnete er sich durch Zuverlässigkeit, Tatkraft und Aktionsbereitschaft aus. Sein mit einem Genossen 1931 auf dem Berliner Bülow-Platz gemeinschaftlich begangener Meuchelmord an zwei Berliner Polizeioffizieren, seine Flucht in die Sowjetunion und schließlich sein Einsatz im Spanischen Bürgerkrieg bestimmten die nächsten Stationen seines Lebens. Mielke überstand die Säuberungswellen in der Sowjetunion, von denen auch zahlreiche exilierte deutsche Kommunisten betroffen waren, und überlebte den Spanischen Bürgerkrieg in Stellungen, in denen er physisch zumindest nicht gefährdet war. Die Autorin widerlegt Legenden, die sich um seine mutmaßliche tschekistische Rolle in Spanien ranken, weist aber nach, dass er neben überwiegend organisatorischen Arbeiten in Spanien auch solche Aufgaben ausführte, die mit Kontrolle und Überwachung zu tun hatten und sich mit denen seines späteren Metiers zumindest berührten. Während des Zweiten Weltkrieges in Frankreich und Belgien versteckt, wurde er aufgegriffen und ab Januar 1944 im Rahmen der Organisation Todt im Bergbau eingesetzt. Mit dem Rückzug der Deutschen aus Frankreich beginnen einige Lücken in der Biographie Mielkes, die auch zu manchen Spekulationen und Legenden Anlass boten, jedoch ist bekannt, dass er nach vierzehnjähriger Abwesenheit im Juni 1945 in seine Heimatstadt Berlin zurückkehrte.

Hier begann seine Nachkriegskarriere. Über leitende Polizeiämter, über die Deutsche Verwaltung des Innern und die Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft gelangte er schließlich auf den Posten eines Staatssekretärs in dem im Februar 1950 gegründeten Ministerium für Staatssicherheit, das fast vierzig Jahre lang seine politische Wirkungsstätte bleiben sollte. Bereits wenige Wochen nach seiner Ernennung praktizierte Mielke als Vernehmer des verhafteten westdeutschen KPD-Abgeordneten Kurt Müller die von seinen sowjetischen Vorbildern übernommenen Methoden, die für Jahrzehnte Geist und Stil seines Hauses prägten. 1957, nachdem Wilhelm Zaisser infolge des 17. Juni und Ernst Wollweber wegen parteiinterner Machenschaften als Minister für Staatssicherheit ausgeschaltet worden waren, wurde Mielke durch die Protektion Ulbrichts ihr Nachfolger, bald darauf auch Abgeordneter der Volkskammer, Mitglied des ZK und des Politbüros und Träger zahlreicher Ehrenzeichen. In dieser Position baute er seine Stellung auch in Bereichen aus, die mit seinen Ämtern unmittelbar nichts zu tun hatten. Der späte Mielke fühlte sich für alles zuständig, und nur seine Aufmerksamkeit und Anpassungsfähigkeit verhinderten Kollisionen mit anderen Größen des Regimes. In die Ära Honecker fiel der organisatorische Ausbau der Staatssicherheit zu dem allumfassenden und allmächtigen Apparat, als der er nach der „Wende" 1989 entlarvt wurde.

Mielke blieb, wie die Autorin überzeugend darstellt, sein Leben lang den kommunistischen Idealen seiner Jugendzeit verhaftet. Die Denkstrukturen der „tschekistischen" Tradition, die Orientierung am sowjetischen Vorbild engten aber sein Weltbild so weit ein, dass er Entwicklungen außerhalb dieses Schemas nicht richtig einzuordnen verstand. Das gilt vor allem für die Friedens- und Bürgerrechtsgruppen in der DDR der Achtzigerjahre oder die Ausreisebewegung, deren Ursprünge, Dynamik und Wirkung er offensichtlich falsch einschätzte. Mit Sorge beobachtete er demokratische Tendenzen in Polen und Ungarn sowie Glasnost’ und Perestrojka in der Sowjetunion, vor denen er in den späten Achtzigerjahren wiederholt eindringlich warnte. Der Mielke des Jahres 1989 war zwar tief beunruhigt, wurde aber letztlich durch die Ereignisse des Herbstes überrascht. Seine Mitwirkung am Sturz Honeckers sollte dem weiteren Autoritätsverfall des SED-Staates Einhalt gebieten – vergeblich. Sein Weltbild sah ein politisches Ende dieser Art nicht vor, und sein eher peinlicher Auftritt in der Volkskammer mit dem berühmten Zitat „Ich liebe euch doch alle" offenbarte seine ganze Hilflosigkeit in einer Situation, die er durch sein jahrzehntelanges Wirken maßgeblich mit herbeigeführt hatte. Am Ende seines Lebens holte ihn der Mord am Bülowplatz wieder ein. Zunächst wegen eher marginaler Vergehen verhaftet, wurde das sechs Jahrzehnte vorher verübte Verbrechen zum Gegenstand der Anklage und Strafe, die er aus Altersgründen nur zu einem Teil abzusitzen brauchte. Die in seiner Funktion als Stasi-Chef verübten und veranlassten Verbrechen blieben ungesühnt.

Die umfangreiche Biographie beruht auf gründlichen Archivstudien, um die jeder Historiker, dem noch vor wenigen Jahren die entsprechenden Quellen versperrt waren, die Autorin beneiden muss: Akten des MfS (BStU) und solche von Partei- und Regierungsstellen der DDR (SAPMO-BArch), Archive in Österreich, Russland und in den USA, Interviews mit Zeitzeugen und eine umfangreiche Sammlung von Korrespondenzen, unveröffentlichten Memoiren und anderen Materialien. Die Verfasserin hat diese Stoffmenge souverän gemeistert. Ein ausführlicher Anhang mit faksimilierten Dokumenten und eine CD mit Original-Redebeiträgen Mielkes aus Dienstbesprechungen ergänzen die Studie. In ihrer lesenswerten Darstellung hat sich die Autorin – weitgehend mit Erfolg – darum bemüht, hinter dem Apparatschik auch den Menschen Erich Mielke zu skizzieren, eine aufgrund der Quellenlage nicht immer einfache Aufgabe. Die Darstellung vermittelt einen Einblick in die Geschichte von KPD und SED, in die Interna des SED-Regimes und der DDR insgesamt bis zu Strukturen, Methoden und Praktiken der Staatssicherheit, für die vor allem der Name Mielkes steht und die über Jahrzehnte Schicksal für Millionen Menschen in beiden Teilen Deutschlands waren.

Patrik von zur Mühlen, Bonn



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