Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850), Verlag Vandehoeck & Ruprecht, Göttingen 2000 (= Bürgertum: Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14), 456 S., 3 Abb., kart., 84 DM.

"If we wanted home truths, we should have stayed at home": Dieses pointierte Diktum des berühmten Ethnologen Clifford Geertz stellt Rebekka Habermas der Schlussbetrachtung ihrer eindrucksvollen Habilitationsschrift voran und markiert damit die Absicht und Stoßrichtung des ganzen Unternehmens. Es geht ihr um nicht weniger als um die Neubewertung der Bürgertumsgeschichte aus dem Geist einer historisch-anthropologischen Geschlechtergeschichte – eine Neubewertung, die sich aufmacht, die „home truths" einer mittlerweile in die Jahre gekommenen Sozialgeschichte der "big structures, large processes, huge comparisons" (Charles Tilly) mit den Mitteln der anthropologisch inspirierten Mikrogeschichte kritisch zu befragen und wenn nötig zum alten Eisen zu werfen.

In ihrer konzisen Einleitung nennt Habermas denn auch unmissverständlich die „home truths", die sie der Simplifizierung und Verzerrung verdächtigt: Die klassische Sozialgeschichte habe generell den Aspekt des Kulturellen und ganz besonders die fundamentale Prägung der Gesellschaft durch die Kategorie des Geschlechts wenn nicht völlig ausgeklammert, so doch nur marginal behandelt und in ihrer gesellschaftsprägenden Kraft unterschätzt. Überdies sei der kulturelle Blick dabei unzulässig auf Werte, Leitbilder und Normen reduziert worden mit der Folge, dass die Diskurse der (männlichen!) „Meisterdenker" des Bürgertums häufig für bare Münze genommen worden und die sozialen Praxen und Wirklichkeiten dagegen unterbelichtet geblieben seien. Daraus resultierten vereinfachende Dichotomisierungen, so z.B. die Vorstellung, dass die Lebenswelten von Männern und Frauen im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr in eine männlich dominierte Sphäre des Öffentlichen und in eine weiblich geprägte Welt der von der Außenwelt immer mehr abgeschlossenen Familie zerfallen seien. Zugleich gelte es, den praktischen Realitätsgehalt des romantischen Liebesideals zu überprüfen anstatt einfach vom Diskurs auf die Wirklichkeit zu schließen. Und ebenso müssten die gängigen Annahmen einer geschlechtergeschichtlich uninformierten Strukturgeschichte in Frage gestellt werden wie z.B. die Vorstellung von der linear zunehmenden Trennung der Arbeitswelten und der damit einhergehenden Abwertung weiblicher Tätigkeiten im Zuge der „Entökonomisierung" der Hauswirtschaft.

Um solche starren Schemata und falschen Homogenisierungen durch eine differenziertere Betrachtungsweise abzulösen, die Ungleichzeitigkeiten, Brüche und Differenzen in den Blick zu nehmen versucht, stützt sich die Analyse von Rebekka Habermas auf die gerade für das Bürgertum so aufschlussreichen „Ego-Dokumente", also vor allem auf Briefe, Tagebücher, Testamente, autobiographische Versuche, Stammbücher u.ä. Von besonderem Reiz ist, dass die Autorin einen umfangreichen Nachlass zweier miteinander verschwägerter Bürgerfamilien für die Zeit zwischen etwa 1780 und 1840 recherchiert und eingehend ausgewertet hat: Die Merkels aus Nürnberg verkörpern das klassische Stadt- bzw. Wirtschaftsbürgertum mit erheblichem lokalpolitischen Einfluss, während die pietistisch geprägten Roths aus Stuttgart als Beamte, Lehrer und Pfarrer geradezu idealtypisch für das in Deutschland so überaus bedeutsame Bildungsbürgertum stehen. Nicht nur die Vernetzung zweier unterschiedlicher „Bürgertümer", sondern auch die diachrone Analyse über zwei Generationen hinweg machen deutlich, wie präzise und kenntnisreich hier der Quellenbestand im Hinblick auf seine Repräsentativität ausgewählt wurde. Methodisch nimmt Habermas drei zentrale Bereiche bürgerlicher Praxis in den Blick, nämlich Arbeit, Geselligkeit und das Ehe- bzw. Familienleben (und klammert dabei bewusst andere wichtige Bereiche wie Körperlichkeit, rechtliche Strukturen oder politische Kontexte aus).

Was sind nun die wichtigsten Ergebnisse dieser enorm detailreichen und genau recherchierten Studie? Gelingt es Habermas, das Schwarz-Weiß-Gemälde der Strukturgeschichte zu übermalen und mit der Farbe des „wahren Lebens" zu erfüllen? Welche „Mythen" werden durch die anthropologisch-historische Geschlechterforschung entzaubert?

Habermas kann zeigen, dass die Arbeitswelten von Männern und Frauen des Bürgertums nach 1800 keineswegs immer weiter auseinander traten und auch die Berufsorientierung der Männer keineswegs so dramatisch zunahm, dass keine Zeit mehr für häusliches Leben und Kindererziehung geblieben wäre und Kindererziehung geblieben wäre. Sehr aufschlussreich ist dabei, dass das Selbstverständnis beider Geschlechter sich in eine ganz ähnliche Richtung entwickelte: „Frauen wie Männer begannen ihre Tätigkeiten als ‘Arbeit an der Moral und an der Zivilisation’ zu verstehen. (...) Der Leistungscharakter gewann in erster Linie – und zwar für beide Geschlechter gleichermaßen – an Bedeutung, wo er sich auf die Steigerung der sittlich-moralischen Standards bezog, und statt von Freisetzung von Arbeit war die weibliche Lebenssituation von einer Arbeitsmehrbelastung gekennzeichnet." (S. 396). Das deutsche Bürgertum nach 1800 bezog insofern seine Selbstwertschätzung vor allem aus dem Projekt der moralischen und sittlichen (Selbst-)Kultivierung aus dem Geist des Humanismus wie auch – und das ist hier vor allem im Hinblick auf die Identität der Frauen entscheidend und aufschlussreich – aus einer Religiosität, die sich bei aller Parallelität der Denkmuster dann auch wieder gerade gegen die häufig eher aufklärerisch-freimaurerischen Positionen der Männer artikulierte.

Andererseits, und das ist ein zweites wichtiges Ergebnis der Studie, war das Eheleben trotz solcher Spannungsmomente wiederum keineswegs so polar geprägt, wie das die Vorstellung von den distinkten „Geschlechtercharakteren" suggeriert. Auch wenn in der Praxis letztlich ökonomische Erwägungen immer noch den entscheidenden Ausschlag für eine Eheschließung gaben, zeigt sich bei genauerer Analyse der Mikroebene doch eine deutliche Emotionalisierung und beinahe „Sakralisierung" der Ehe und ihrer Rituale, die gerade keine eindeutigen Hierarchien und Polarisierungen mit sich brachte, sondern im Gegenteil durchaus dem Ideal der gleichgewichtigen „Ergänzung" der Geschlechter erstaunlich nahe kam. Damit bot die Ehe zugleich auch einen „Bildungsraum", der insbesondere den Frauen ganz neue Bildungschancen bot und damit auch langfristig die Voraussetzung für die einstweilen noch verwehrten Zugänge zum System höherer Bildung schuf.

Schließlich stellt die Autorin drittens fest, dass die Geselligkeitsformen weitaus vielschichtiger waren als lange angenommen, so dass die Vorstellung von der Polarisierung zwischen männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Privatheit als bürgerlicher Mythos erscheint. Auch wenn Logen, Vereine und Lesekabinette zunächst noch eine rein männliche Angelegenheit blieben, bildeten die Frauen einerseits eine Art Gegenöffentlichkeit in Form von Wohltätigkeitsvereinen, „Kränzchen" und „Damenvisiten" und stellten andererseits über die vielfältigen häuslichen Empfänge und Soireen eine geschlechterübergreifende Form von Halb-Öffentlichkeit her, die nicht nur eine wirkungsvolle „Bresche ins System der Ungleichheit" schlug, sondern Frauen zugleich auch ein erhebliches moralisches Prestige in der Männerwelt verschaffte.

Diese wichtigsten Ergebnisse werden in Habermas’ Studie eindrücklich und detailliert vorgeführt, so dass ihre Plausibilität außer Frage steht. Allerdings bleibt doch die Frage, ob sie die bisherigen Ergebnisse der Familien- und Bürgertumsforschung tatsächlich so umkrempeln, wie das eingangs postuliert wird – eine Frage, die sich vor allem im Hinblick auf den gewählten Zeitraum stellt, denn die von Habermas angegriffenen Thesen der wachsenden Polarisierung der Geschlechterwelten sind in der Forschung ja immer wieder zu Recht in erster Linie auf die industrielle Revolution und ihre gesellschaftlichen Folgen zurückgeführt und dabei vor allem auf die „neuen" Schichten des Besitzbürgertums (sowie des sich stärker professionalisierenden Bildungsbürgertums) bezogen worden. Gerade diese in Deutschland letztlich erst um 1850 einsetzende Phase und diese spezifisch „modernen" Schichten werden aber von Habermas gar nicht untersucht, deren Studie sich nur bis in die 1840er Jahre erstreckt, mithin die politisch-industrielle Doppelrevolution seit 1848 ausklammert (überdies ist die untersuchte Familie der Merkels eine des alten Stadtbürgertums, die im Zuge der Industrialisierung bezeichnenderweise den Anschluss verpasst und ihr Vermögen verliert). Eine etwa auf die Zeit zwischen 1830 und 1890 ausgerichtete Untersuchung hätte dagegen die Verwerfungen und Brüche im Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft und ihre Folgen für die „gendered identities" im Bürgertum daher u.U. stärker konturiert und damit die Infragestellung „klassischer" Thesen plausibler gemacht als die Analyse einer im Kern noch vorindustriellen Welt, für die das stärkere Zusammenspiel der Geschlechter im Hinblick auf Arbeit, Geselligkeit und Familienleben im Grunde auch kaum je bestritten worden ist. Man fragt sich also ein wenig, ob hier nicht – gemessen am Anspruch – doch bisweilen „offene Türen" eingerannt werden.

Eine zweite kritische Anmerkung betrifft die Darstellung des privaten Lebens der Zeit um 1800, die man früher die „Goethezeit" genannt hätte. So plausibel und wichtig die postulierte Distanz zum Gegenstand ist, so bedauerlich ist es doch zuweilen, dass die „personae" selbst kaum zu Wort kommen, zumal deren „Obsession" der permanenten schriftlichen Selbstbeobachtung und Kommunikation wiederholt betont wird: Als ob die Autorin dann doch ihrem interessanten Quellenbestand misstraut habe, wird kaum einmal ein längerer Zusammenhang oder ein Konflikt im „Original-Ton" geboten, was ansonsten ja nicht nur die Anschaulichkeit erhöht, sondern gerade auch die Faszination von Mikrostudien ausmacht. Vor lauter Distanz zum Gegenstand (die immer wieder durch abstrakte Begrifflichkeiten wie z.B. den Rekurs auf die Bourdieuschen „Kapitalsorten" betont wird) bleiben die Akteure daher für den Leser gelegentlich etwas blass und werden bisweilen eher als Exempla für allgemeinere sozialhistorische Befunde vorgeführt. Wer also eine Art historische „Buddenbrooks" der Zeit um 1800 erwartet hat, wird vielleicht doch etwas enttäuscht sein, denn es fehlt der Schilderung sozusagen die „Dramatik", die ansonsten für mikrohistorische und ethnologische Studien eines Ginzburg oder Geertz so kennzeichnend ist – ein Manko, das andererseits dem hohen Reflexionsniveau und dem außerordentlichen theoretischen Anspruch geschuldet ist. Auch wenn nicht alle „home truths" entlarvt worden sind, hat sich die Reise doch gelohnt: Das Bild ist nicht völlig neu gemalt, aber es ist viel farbiger und nuancierter geworden als wir es bisher gesehen haben.

Alexander Schmidt-Gernig, Berlin



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000