Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wolfram Wette (Hrsg.), Pazifistische Offziere in Deutschland 1871-1933, Verlag Donat, Bremen 1999, 432 S., 21 Abb., brosch., 29,80 DM.

Der Sammelband ist ein Gemeinschaftswerk von zwei Frauen und sechzehn Männern, die ihre Aufmerksamkeit einem „weißen Fleck" auf der historischen Landkarte widmen, der von der seltenen Spezies „weißer Raben" (S. 9) bewohnt wird. Diese „Vögel" lassen sich historisch-systematisch grob zwischen „Falken" und „Tauben" einordnen, gehören aber keineswegs, wie Spötter vermuten könnten, der Heilsarmee an, sondern bilden einen eigenen militärgeschichtlichen Übergangstyp. Die contradictio in adiecto des Buchtitels ist von den Autoren gewählt worden, um darauf hinzuweisen, „daß im kaiserlichen Deutschland und in den Jahren der Weimarer Republik Offiziere gewirkt haben, die den Weg kriegerischer Machtpolitik für ein Unheil hielten und die sich in der Konsequenz ihrer gewandelten Überzeugungen dem Pazifismus zuwandten" (S. 10). Wie aussagekräftig das Leitmotiv noch heute ist, zeigt die unvergessene Un-Tat des ehemaligen Bundeswehrgenerals Gert Bastian, der seine Arbeits- und Lebensgemeinschaft mit der Pazifistin Petra Kelly durch einen spektakulären Doppel(selbst)mord beendete.

Die Tragödie dieser Partnerschaft erhellt die existentielle Problematik der vorgelegten siebzehn Lebens-Wandel, in denen sich immer wieder ein militaristischer „Saulus" zu einem pazifistischen „Paulus" wandelt, der sein Leben seitdem zwar ohne Gewehr, im Gegensatz zum Heidenapostel aber auch ohne (göttliche) Gewähr führt. Obwohl solche „Damaskuserlebnisse" eine Rolle spielen (S. 30, S. 149, S. 182ff., S. 324), sind sie weder besonders überzeugend noch repräsentativ. Doch auch das persönliche Kriegserlebnis war keineswegs ausschlaggebend. Obwohl fast alle Offiziere Kriegserfahrung besaßen und entweder in den Einigungskriegen, in Kolonialkonflikten oder im Ersten Weltkrieg gezwungen waren, Menschen zu töten beziehungsweise töten zu lassen, hat dieser Ernstfall keinen der vorgestellten Soldaten derart erschüttert, dass er seinem Leben eine pazifistische Wendung gab. Die geschilderten Neuorientierungen beruhen vielmehr auf langjährigen, von ganz unterschiedlichen Widersprüchen geprägten, geistigen Wandlungsprozessen, die sich teilweise sogar erst nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zeigten (S. 66, S. 104, S. 113f., S. 232f.). Die meisten pazifistischen Offiziere lassen sich als Intellektuelle einstufen, die ihre Rolle in der Armee schon früh reflektierten und obendrein die innere Stärke besaßen, der eigenen Einsicht auch dann zu folgen, wenn sie dem Korpsgeist widersprach. Dieser Nonkonformismus äußerte sich nicht nur darin, dass überdurchschnittlich viele von ihnen dem traditionellen Kasinoleben fernstanden, da sie Alkohol, aber auch Fleisch, Nikotin oder Glücksspiel ablehnten (S. 45, S. 65 u. S. 68, S. 103, S. 172f., S. 343), sondern in weit höherem Maße dadurch, dass sie sich auch im Dienst nicht scheuten, Befehle oder militärische Grundsätze gezielt in Frage zu stellen (S. 84f., S. 112f., S. 149ff., S. 174f., S. 288). Diese allenthalben erkennbare „Tapferkeit vor dem Freund", die Georg Friedrich Meyer sogar zur Desertion führte (S. 190f.), manifestierte sich nicht zuletzt in dem charakteristischen Begleitumstand, dass nahezu alle für ihre Überzeugungen (früher oder später) auch öffentlich eintraten.

Die ideelle Kollektivbiographie der pazifistischen Offiziere lässt sich angesichts dieser Befunde als Werdegang eines typischen Vernunftpazifisten deuten, für dessen Genesis die rationale Selbst-Aufklärung ausschlaggebender war als jedes emotionale Erweckungs-Erlebnis. Die Wandlung der meisten Offiziere trägt unverkennbar die Züge einer persönlichen Evolution, die allerdings viele „Muttermale" der früheren Existenz bewahrte – was im Extremfall sogar dazu führte, dass einige von ihnen im Reichsbanner eine neue, paramilitärische Ersatz-Heimat fanden (S. 134, S. 296f.). Bedingungslose Radikalpazifisten wie der ehemalige zarische Offizier Lev Nikolaevic Tolstoj oder der Führer der indischen Nationalbewegung Mohandas Karamchand Gandhi stießen in ihren Reihen ebenso auf Ablehnung (S. 241 u. 243, S. 296) wie die in der Zwischenkriegszeit verstärkt auftretenden Kriegsdienstverweigerer (S. 266, S. 280). Abgesehen von Ausnahmen (S. 194, S. 209, S. 350f.) bekannten sich die meisten Offiziere daher auch nach ihrem Bruch mit der offiziellen Militärpolitik zur Anwendung legitimer Gewalt zum Zweck der nationalen Verteidigung und/oder der internationalen Friedensstiftung im Rahmen des Völkerbundes. Die Spannweite der von den pazifistischen Offizieren vorgelegten militärpolitischen Vorschläge erwies sich damit freilich als ebenso groß wie die Konzeptpalette der herkömmlichen Pazifisten. Auch die „weißen Raben" gerieten damit – ungeachtet ihrer besonderen Kompetenz – in das für die Friedensbewegung bis heute charakteristische Dilemma von überzeugender, ja wegweisender Kritik und heftig umstrittenen, selbst von prinzipiell Gleichgesinnten rigoros in Zweifel gezogenen Lösungsvorschlägen. Den nach der Novemberrevolution einsetzenden „Krieg im Frieden" (Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann) um eine zutreffende historisch-polititsche Deutung des Ersten Weltkriegs und die aus ihr zu ziehenden Schlussfolgerungen haben die deutschen Friedensfreunde und die mit ihnen verbundenen Offiziere denn auch nicht zuletzt aus diesem Grund verloren.

Diese Feststellung kann und soll die Leistungen der pazifistischen Offiziere nicht schmälern. Ihre politische Niederlage in den großen Debatten um Kriegsschuld, Versailler Diktat, Kapp-Putsch und Freikorps, Schwarze und weniger schwarze Reichswehr, die geheime Wiederaufrüstung, den Völkerbund oder den Aufstieg der Nationalsozialisten widerlegt weder ihre damaligen Argumente, die mittlerweile fast alle von der Geschichtswissenschaft bestätigt worden sind, noch ihre vielfach bewundernswerte persönliche Integrität. Wie ernst es den „weißen Raben" mit ihren neuen Einsichten war, zeigt denn auch nicht zuletzt die Zivilcourage, mit der sie den schweren, zum Teil unmenschlichen Diskriminierungen standhielten, die ihre ehemaligen „Kameraden" gegen sie und ihre Familien anwandten. In mancher Hinsicht erlebten die pazifistischen Offiziere ihr wahres „Damaskus" erst nach ihrer Wandlung, als sie erkennen mussten, dass eine „totale Institution" (Erving Goffman) wie die Armee sie auch nach ihrem Abschied nicht in Frieden arbeiten und leben ließ. Rund die Hälfte von ihnen ging folglich ins Ausland, um sich der fortgesetzten Verfemung, die bereits 1920 mit der Ermordung Hans Paasches (S. 169) einen ersten, bestialischen Höhepunkt erreichte, so gut wie möglich zu entziehen (S. 86, S. 108, S. 126f., S. 240, S. 260, S. 283, S. 330f., S. 354). Wie weit der Hass und der Arm ihrer Gegner trotzdem noch reichte, belegen die Schicksale von Karl Mayr (S. 283), der von den Nazis aus Frankreich nach Buchenwald verschleppt wurde und dort bei einem Bombenangriff umkam, und Heinz Kraschutzki, der auf Veranlassung der Hitler-Regierung neun Jahre in einem francistischen Kerker verschwand. Der Umgang, den Staat und Armee, aber auch große Teile der deutschen Gesellschaft in Kaiserreich, Republik und Diktatur mit ihren militärpolitischen Dissidenten pflog, wirft daher ein grelles Licht auf den Zustand einer Großmacht, die zwar gegenüber anderen Nationen stets auf ihre äußere Souveränität pochte, aber zu keiner Zeit die nötige innere Souveränität besaß, um Abweichler aus den eigenen Reihen (wenigstens) zu ertragen.

Hartwig Stein, Hamburg



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