Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Robert Streibel/Hans Schafranek (Hrsg.), Strategie des Überlebens. Häftlingsgesellschaften in KZ und GULag, Verlag Picus, Wien 1996, 238 S., geb., 39,80 DM.

Die Untersuchung der Entstehung und Entwicklung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, der Zusammensetzung der Verfolgtengruppen und der Strukturen der Häftlingsgesellschaft in den KZs sind innerhalb der historischen Forschung längst kein Neuland mehr. Anders sieht es in der Forschung über das sowjetische Lagersystem (GULag) aus, die noch in den Anfängen steht. Die österreichischen Historiker Robert Streibel und Hans Schafranek unternehmen als Herausgeber mit dem vorliegenden Band den Versuch, nicht nur Beiträge zu den unterschiedlich verwalteten Lagern zu sammeln, „sondern sowohl für das KZ als auch für den GULag die einzelnen Phasen der Entwicklung mit der unterschiedlichen Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft und den Auswirkungen auf das Zusammenleben und die Möglichkeiten von Widerstand und Solidarität" zu benennen (S. 11). Dabei sollen deutsche und sowjetische Lager nicht gleichgesetzt, sondern vergleichend gegenübergestellt werden.

Die unterschiedlichen Lagersysteme sieht Gerhard Armanski als Produkt der historisch-politischen Bedingungen von Stalinismus und Nationalsozialismus. Der ökonomische Rückstand der Sowjetunion sollte durch den „Archipel GULag" als Zwangsarbeiterlagersystem in dünn besiedelten Gebieten ausgeglichen werden. Die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft war heterogen; politische und kriminelle Häftlinge wurden in den Lagern bewusst gemischt, wobei die kriminellen Häftlinge dominierten und Führungspositionen besetzen konnten. Gerhard Botz untersucht die Binnenstrukturen der nationalsozialistischen Konzentrationslager, das Alltagsverhalten und die Überlebenschancen der Häftlinge. Sie werden zu der sich zeitlich verändernden Bedeutung des gesamten KZ-Systems in Bezug gesetzt sowie zur Rassen- und Vernichtungspolitik, die sich entscheidend auf die Überlebensbedingungen von Häftlingen und Häftlingsgruppen auswirkten.

Auch Irina Scherbakowa weist auf die zeitlich variierende Zusammensetzung von Häftlingsgruppen im GULag, besonders vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, hin. Die meisten Kommunisten, die in den 1930er Jahren als Opfer des umfangreichen Spitzelsystems verhaftet wurden, trafen die Anschuldigungen völlig unvorbereitet. Vorteilhaft wirkte sich aus, dass viele Gefangene untereinander bekannt waren und kleine solidarische Gruppen bilden konnten, die für das Überleben in den Lagern von entscheidender Bedeutung waren. Im Weltkrieg und danach kamen Häftlingsgruppen in die Lager, die aufgrund ihrer Kriegserfahrung und militärischen Ausbildung wesentlich selbstbewusster und besser organisiert waren. Größere Überlebenschancen hatten innerhalb beider Häftlingsgruppen nur die Häftlinge, denen es gelang, eine möglichst leichte Arbeit im Lager zu bekommen.

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern entschied die von der SS vorgegebene Häftlingshierarchie über das Sterben oder Überleben ganzer Gruppen, wie Falk Pingel in seinem Aufsatz zeigt. Den Verfolgtengruppen der nationalsozialistischen Rassenpolitik, die auf der untersten Stufe der Häftlingsgesellschaft standen, war es nicht möglich, sich zum Überleben notwendige Privilegien zu sichern. Eine vergleichbare Gruppe, die „ideologisch als minderwertig" galt, scheint es im GULag nicht gegeben zu haben.

Wie weit sich Häftlinge auf die von der SS vorgegebene Hierarchisierung der Häftlinge einließen, beschreibt Karin Hartewig am Beispiel der kommunistischen Kapos in Buchenwald. Durch die Besetzung der wichtigsten Funktionsstellen in der Häftlingsselbstverwaltung schützten die deutschen Kommunisten hauptsächlich die eigene Gruppe. Die Kapos tauschten gefährdete Genossen, die zu einer besonders kräftezehrenden Arbeit eingeteilt worden waren, gegen „asoziale" Häftlinge aus.

In dem Beitrag von Helga Embacher zu weiblichen Überlebensstrategien in Konzentrations- und Vernichtungslagern wird nicht klar, wie abhängig die Möglichkeiten zur Bewahrung der weiblichen Identität von der Zugehörigkeit zu Häftlingsgruppen und der zeitlichen Einordnung der Lager waren. Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager, auf die sich die Autorin bezieht, hatten ihre spezifische Eigendynamik, deren Bedingungen nicht verallgemeinernd auf die Möglichkeiten der Verhaltensweisen von weiblichen Häftlingen zu übertragen sind.

Meinhard Stark untersucht anhand von autobiografischen Berichten und Interviews die Situation deutscher Frauen im GULag und ihre individuellen Erfahrungen. Um die „Quellen persönlicher Widerstandskraft kommunistischer Häftlinge" innerhalb ihrer biografischen Forschung geht es Ulla Plener. Neben stilistischen Mängeln fehlt ihr ein quellenkritischer Ansatz zur Analyse der Biografien, statt dessen erfolgt eine unnötige Heroisierung der Betroffenen. Im letzten Beitrag zeigt Johannes Tuchel die geringen Möglichkeiten und die Grenzen der Solidarität einzelner Häftlingsgruppen in NS-Konzentrationslagern auf.

Trotz der genannten Mängel bietet der vorliegende Sammelband einen Überblick über den derzeitigen Forschungsstand zu Häftlingsgruppen und Überlebensstrategien in NS-Konzentrationslagern und im sowjetischen Lagersystem. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Forschungsergebnisse und Publikationen zu diesem Themenkomplex folgen werden.

Renate Riebe, Hannover



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