Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Peter Reif-Spirek, Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit", Verlag Christoph Links, Berlin 1999, 328 S., brosch., 38 DM.

Dieser Band handelt von Speziallagern in der SBZ, genauer: von Speziallagern des sowjetischen NKVD (bzw. ab 1946 des MVD) in der SBZ und späteren DDR zwischen 1945 und 1950, oder: von zehn Speziallagern auf dem Gebiet der DDR für die Zeit ihrer Verwaltung durch NKVD bzw. MVD. Es ist dies, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, „kein Konferenzband im strengen Sinne". Denn das Buch gebe nur teilweise Inhalte und Ergebnisse einer 1998 durchgeführten Konferenz in Buchenwald über die „Speziallager in der SBZ als Gegenstand der politischen Bildung" wieder. Darüber hinaus verspricht der Untertitel, hier gehe es um Speziallager als Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit". Im Vorwort wird überdies die Verharmlosung von NS-Verbrechen und eine Gleichsetzung von Konzentrationslagern und Speziallagern befürchtet sowie die „nazistische Vernichtungspolitik" und „Internierungspraxis" nach 1945 einander gegenübergestellt.

Leider wird das weitgehende Verschweigen sowjetischer Lager in der SBZ und DDR von 1945 bis 1990 nur beiläufig erwähnt. Immerhin bedingte es nicht nur die späte Aufdeckung und Behandlung des Lagerthemas nach 1945 in der DDR, sondern vor allem die unglaublich späte Klärung des Schicksals von Vermissten und damit die Möglichkeit des Totengedenkens. Alles ist bis 1990 im stalinistischen Sinne geheimgehalten worden, auch die Toten. Nur die Entnazifizierung gemäß dem SMAD-Befehl 201 wurde 1947/48 breit erörtert. Wäre es nicht angebracht gewesen, gerade in Buchenwald an diese Sachverhalte anzuknüpfen, umso mehr als das Lager und seine Toten von 1945-1950 hinter tarnenden Behauptungen versteckt waren? Weshalb fehlt jeder Hinweis auf Jorge Semprún? Er hat 1994 in der Frankfurter Paulskirche bemerkenswerte Worte für die zweifache Vergangenheit des Lagers Buchenwald und für das Gedenken an diesem Ort gefunden. Das war vorbildhaft für die politische Bildung und das doppelte Gedenken. Warum fand sich kein Platz für Karl Wilhelm Frickes mutige Untersuchung des sowjetischen Sicherheitssystems (1978) und für andere frühe relevante Aufsätze zum Thema?

Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Ralf Possekel haben mit Sergej Mironenko im Frühjahr 1998 zwei von ihnen herausgegebene Bände über die sowjetischen Speziallager in Deutschland 1945-1950 vorgelegt. Auf der Tagung im Herbst 1998 stützten sie sich auf ihre Beiträge in diesen Bänden. Sie ergänzten sich gegenseitig, und besonders Lutz Niethammer trug bemerkenswerte Folgerungen in Bezug auf die stalinistische Verfolgunspraxis vor. Alexander von Plato schien damit zu rechnen, dass unzugängliche Verhörunterlagen und andere verschlossene Geheimdienstakten Zuverlässiges zu „offenen Fragen" enthalten. Die Gutgläubigkeit verwundert, wie auch Betrachtungen über „Rivalitäten" und das „Nichtreden" auf der Seite der „Opfer". Ralf Possekels Erörterungen beschränkten sich zwangsläufig auf die 123 Dokumente des von ihm bearbeiteten Bandes, von denen viele schon seit längerem zugänglich waren. Anfänglich war von einer zweisprachigen Edition die Rede gewesen. Leider ist man davon abgerückt. Auf weitere Quellen und jüngere Arbeiten in Russland und andernorts bleibt hinzuweisen. Hervorzuheben ist die Quellenbetrachtung von Christian Schölzel. Ihm und anderen wünscht man, von der sowjetischen Vernichtungspolitik „mehr als nur den Wellenkamm auf sachliche Weise historiographisch" zu ergründen.

Zum Stichwort „Gedenkstätten" gewinnt der Leser neben kürzesten Angaben an anderer Stelle von Thomas Lutz kompetente Einblicke über die Nutzung der Standorte der Speziallager bis 1945. Man erwartet, dass nicht zuletzt die Gedenkstätten-Stiftungen den mancherorts unappetitlichen Streit beizulegen und Gräben zu überbrücken helfen. Mit Blick auf den Untertitel vermisst man gerade die Stiftungen in diesem Band.

Ulrich Herbert hat das Jahrhundert des Lagers zu umreißen versucht. Anzuführen sind auch Andrzej Szczypiorskis Essay über „Das Lager" als das „Ende aller Zivilisation" (1996) sowie Zygmunt Baumans Aufsatz „Die Lager - östliche, westliche, moderne".

Karin Orths Studie über die NS-Konzentrationslager sei mit Nachdruck hervorgehoben. In ihrem 34-seitigen Beitrag stellt die Verfasserin das komplexe KZ-Thema und dessen Vielfalt vorbildlich dar. Die klare Analyse von Organisation, Strukturen und Zielsetzungen schafft Raum für das Erfassen der unmenschlichen Handhabungen und Abläufe. Der Rückgriff auf andere kompetente Arbeiten stützt die eigenen Ergebnisse. Wünschenswert wäre eine Breitenwirkung bis in alle Verästelungen der in diesem Band vertretenen Gruppierungen und bis in die Universitäten und Schulen.

Friedhelm Boll hat vieles im vorliegenden Band, aber auch an dieser Stelle Gesagte auf humanitäre Weise miteinander verbunden. Auch Konträres. Man ist versucht, diese Verbindungen als Fäden in zwischenmenschlichem Gespinst zu erkennen, deren jede und jeder von uns bedarf, um mit sich selbst und mit anderen human umzugehen. Ohne die Humanitas führt vieles, auch Forschung, ins Leere.



Achim Kilian,Weinheim



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