Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Ilde Gorguet, Les mouvements pacifistes et la réconciliation franco-allemande dans les années vingt (1919-1931), Verlag Peter Lang, Bern etc., 1999, 325 S., brosch., 94 DM.

Die traumatischen Erfahrungen in den Schützengräben wie an der Heimatfront lösten gegen Ende des Ersten Weltkrieges eine Gründungswelle pazifistischer Vereine aus oder bestärkten bereits bestehende Zusammenschlüsse mit primär menschenrechtlichen, frauenrechtlichen oder kirchlichen Anliegen in pazifistischen Orientierungen. Ilde Gorguet hat sich zur Aufgabe gemacht, einige ausgewählte Gruppierungen zu betrachten, um den kurz- bzw. langfristigen Beiträgen der Friedensbewegung für eine deutsch-französische Annäherung auf die Spur zu kommen. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich zum einen auf eher humanistisch inspirierte Organisationen wie die „Ligue des Droits de l'Homme", den „Bund Neues Vaterland" oder die „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit". Zum anderen nimmt sie repräsentative christlich motivierte Vereinigungen in den Blick wie Marc Sangniers „Internationale Démocratique" auf katholischer Seite oder die protestantische „Alliance universelle pour l'amitié internationale". Allesamt zählen sie eher zum moderat- als radikalpazifistischen Flügel der Friedensbewegung und empfanden eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich als den Angelpunkt des eigenen Denkens und Handelns wie auch des künftigen Friedens in Europa.

1997 als germanistische Dissertation an der Sorbonne verteidigt, basiert die Arbeit auf breitesten Quellenstudien in französischen, vornehmlich aber deutschen Archiven. Ausgewertet wurden zahllose Bestände ungedruckter Materialien und Nachlässe, daneben die verfügbaren pazifistischen Presseerzeugnisse der Zwanzigerjahre. Bei allem Wohlwollen gegenüber Absichten und Anliegen der Friedensbewegung geht doch die kritische Distanz gegenüber dem Untersuchungsgegenstand zu keinem Zeitpunkt verloren. In drei chronologisch geordneten Hauptkapiteln, 1919 bis 1923, 1924 bis 1926 und 1926-1931, sowie einem resümierenden vierten Abschnitt wird immer wieder abgewogen zwischen kurzzeitig erfolgreichen Denkanstößen, mittelfristigem Scheitern politischer Einflussnahme sowie über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus wirkendem pazifistischen Gedankengut. Immer wieder wird nach den Gründen für die Anfang der Dreißigerjahre wenig befriedigende Bilanz gesucht, sei es extern im Bedingungsgeflecht pazifistischer Politik, sei es intern im Selbstverständnis und Verhalten der Friedensbewegung selbst.

Als Scharnierjahr stellt die Autorin 1924 vor. Einerseits ließ sich erkennen, dass die persönlichen Netzwerke der frühen Nachkriegsmonate über den Ruhrkampf hinaus fortbestanden, die Krise des Vorjahres die Frequenz deutsch-französischer Kontakte sogar erhöhte (40). Elemente pazifistischer Diskurse und deeskalationsorientierten Krisenmanagements fanden Eingang in die Politik und öffentlichen Widerhall als Gegenentwürfe zum überbordenden Nationalismus der Zeit (117). Andererseits kristallisierten sich zunehmend jene Trends heraus, die dem organisierten Pazifismus seine Grenzen aufzeigen sollten (130f.). Dazu gehörte, dass er innere Konfliktlinien nie zu kitten vermochte. Hohe Hemmschwellen christlicher Vereinigungen für eine vorbehaltlose Zusammenarbeit mit ihren humanistischen Pendants in antiklerikal-laizistischer Tradition waren ebenso an der Tagesordnung (200) wie scharfe Dispute zwischen vielfach kompromissunfähigen Kleinstgruppierungen, moderateren und radikaleren Strömungen, etwa zu Fragen der Abrüstung oder Kriegsdienstverweigerung (287f.). Zu dauerhafter organisatorischer Einheit zu gelangen, erwies sich unter solchen Umständen auf nationaler wie internationaler Ebene als aussichtslos (190f.).

Aus latenter Zustimmung zu pazifistischen Ideen eine mobilisierungsfähige Kraft zu schmieden, scheiterte freilich auch daran, dass die Friedensbewegung immer auch in spezifisch nationalen Kontexten agierte (145). Mochten deutsche Pazifisten die Pariser Ruhrpolitik auch scharf kritisieren, allein wegen grundsätzlicher Anerkennung eines französischen Rechts auf Reparationen sahen sie sich ständig dem Vorwurf ausgesetzt, Hochverrat zu begehen und den Anti-Versailles-Konsens aufzukündigen. Eine gewisse Breitenwirkung zu erzielen war für sie ungleich schwieriger als für die Mitstreiter in Frankreich, denen nie, wie Ilde Gorguet ausführt, ein ähnlich virulenter Nationalismus entgegenschlug. Den Kriegserfolg im Rücken, ein tief verankertes republikanisch-demokratisches Bewusstsein als Fundament, konnte der organisierte Pazifismus dort ein höheres Legitimitäts- und Popularitätspotenzial ausschöpfen (294f.). Mehr und mehr spiegelte dies den Stillstand im politischen Prozess deutsch-französischer Annäherung wider, mehr und mehr schlug die Unfähigkeit, die bilateralen Beziehungen auf der Basis der Gleichheit statt in Sieger-Besiegter-Kategorien zu denken, auf pazifistische Aktivitäten durch.

Lässt die Autorin am Misserfolg des Pazifismus zwischen den Weltkriegen keinen Zweifel, so verbucht sie auf der Haben-Seite langfristige Wirkungen für die Zeit nach 1945. Dies deckt sich völlig mit der Aufassung, die Sophie Lorrain in ihrer ebenfalls 1999 erschienenen Untersuchung zu deutschen und französischen Pazifisten als Pionieren der bilateralen Verständigung 1870-1925 vertritt. Laut Gorguet haben viele persönliche Netzwerke den Zweiten Weltkrieg überstanden und weiter für einen künftigen europäischen Frieden auf der Grundlage des deutsch-französischen Ausgleichs gewirkt. Von daher mag im Rückblick die Friedensbewegung tatsächlich als "laboratoire conceptuel" (283, 305) künftiger Einsichten im zwischenstaatlichen Umgang erscheinen.

Vorrangiger oder gar alleiniger Anspruch war dies jedoch nicht. Auch fehlen, obwohl es sich um den zentralen Fluchtpunkt der Argumentation handelt, Belege für konkrete Einflussnahmen und Kausalzusammenhänge. Nicht diskutiert wird weiter, inwiefern es sich überhaupt um originär pazifistisches Gedankengut handelte oder möglicherweise um Ideen, die angesichts der Erfahrung nationalsozialistischer Untaten förmlich in der Luft lagen und von anderen politisch-weltanschaulichen Strömungen mit gleichem Recht reklamiert werden konnten. Knappe stereotype Hinweise auf programmatische Parallelen, auf Adenauer und de Gaulle seit 1958 und den Elysée-Vertrag von 1963 reichen als Erklärung nicht aus, zumal die neuere zeitgeschichtliche Forschung die Anfänge der deutsch-französischen Annäherung inzwischen weitaus früher datiert, sie teilweise bereits in der frühen Pariser Deutschlandpolitik nach Kriegsende verortet. Mit idealistischen oder pazifistischen Anwandlungen hatten solche Ansätze allerdings damals wie später wenig zu tun, viel dagegen mit einem veränderten internationalen Umfeld, mit einer doppelten - französischen 1940 und deutschen 1945 - Kriegsniederlage, mit einer Neubestimmung nationaler Interessenpolitik und mit Lernprozessen relevanter Entscheidungsträger. Auch hier mit einer ausgewogeneren Analyse aufzuwarten, hätte der Arbeit nicht geschadet.

Solche Einwände schmälern aber nicht deren Wert als archivalisch breit abgestützte kenntnisreiche und verständliche Darstellung zum organisierten Pazifismus der Zwanzigerjahre. Auch wenn die Ergebnisse nicht durchweg neu sind, nicht vieles den Leser wirklich überrascht, führt sie doch kompetent in die Problematik ein und erlaubt tiefe Einblicke, sowohl in hausgemachte Defizite als auch in umfeldbedingte Schwierigkeiten, die Handlungsmargen pazifistischer Akteure und deren Einfluss im Sinne einer deutsch-französischen Verständigung von vornherein einschränkten und im Zeitverlauf weiter reduzieren sollten.

Dietmar Hüser, Saarbrücken



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