Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium: die Zeugen Jehovas im "Dritten Reich", (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 42), Verlag R. Oldenbourg, München 1993, 577 S., kart., 98 DM.

Über Verfolgte des politischen und christlichen Widerstandes während der Zeit des Nationalsozialismus ist viel geschrieben worden; der Widerstand der Zeugen Jehovas und ihr Leiden in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern fand dagegen in der historischen Forschung und der breiten Öffentlichkeit zu wenig Beachtung.

Detlef Garbe, Leiter der Gedenkstätte Neuengamme, schließt mit seiner gedruckten Dissertation eine Forschungslücke. In der breit angelegten Untersuchung wird zunächst auf die Gründung, Zielsetzung und Entwicklung der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung eingegangen und anschließend ihre Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung während des Dritten Reichs dargestellt und analysiert.

Bereits ab April 1933 war die kleine Glaubensgemeinschaft, die ca. 25.000 Mitglieder in Deutschland umfasste, verboten, da sie kompromisslos die Kriegsdienstverweigerung propagierte. Mit diesem Verbot begann die schrittweise Verfolgung der Bibelforscher, die sich mehrheitlich den nationalsozialistischen Machthabern widersetzten.

Die Ablehnung des nationalsozialistischen Staates, die Weigerung in NS- Massenorganisationen einzutreten, die Ablehnung des "Hitler-Grußes" und der Boykott der Wahlen waren nicht politisch, sondern ausschließlich religiös motiviert. Die Verfolgungsbehörden reagierten darauf mit unerbittlicher Härte, und bereits 1935 wurden Hunderte von Zeuginnen und Zeugen Jehovas in Gefängnissen und Konzentrationslagern interniert. Doch es blieb nicht nur bei der (strafrechtlichen) Verfolgung. Durch Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst, aber auch aus der Privatwirtschaft, eingeleitet durch die DAF, wurde versucht, den Zeugen Jehovas die materielle Grundlage zu zerstören. Ein weiteres Druckmittel war die elterliche Sorgerechtsentziehung; in mindestens 860 Fällen wurden Kinder ihren Eltern fortgenommen.

Garbe beschreibt akribisch die Rechtsgrundlage, die eigens geschaffen werden musste, um die Zeugen Jehovas zu isolieren und zu entrechten. Trotz dieser weitgehenden Repressalien gelang der Aufbau eines illegalen Organisationsnetzes, das durch erneute Verhaftungswellen 1936/37 völlig zerschlagen wurde. Während der Kriegsjahre verschärften sich die Strafen gegen die Kriegsdienstverweigerer, und nach Schätzungen des Autors wurden zwischen 250 und 300 deutsche und österreichische Zeugen Jehovas hingerichtet.

In den Konzentrationslagern waren die Zeugen Jehovas bis Kriegsbeginn eine relativ große Verfolgtengruppe; ihr Anteil betrug an der jeweiligen Belegstärke der einzelnen Lager zwischen fünf bis zehn Prozent. Innerhalb der Lagergemeinschaft bildeteten sie eine weitgehend homogene Gruppe, die auch angesichts härtester Strafen nicht vor individuellen und kollektiven Verweigerungen, z.B. für die Rüstungsproduktion zu arbeiten, zurückschreckte. Ihren Mitgefangenen erschienen sie vielfach suspekt, vor allem weil nur sie einfach entlassen werden konnten, wenn sie ihrem Glauben abschworen. Dennoch waren sie aufgrund ihrer Geschlossenheit und ihrer kameradschaftlichen Hifsbereitschaft, wie viele Augenzeugenberichte belegen, geachtet.

Im letzten Teil der Studie erörtert Detlef Garbe ausführlich die Frage, ob sich die Aktivitäten der Zeugen Jehovas während des Nationalsozialismus in die "von der Widerstandshistoriographie entwickelten Kategorisierungen" einordnen lassen (S. 502). Er kommt zu dem Schluss, dass die Definitionen nicht ausreichen, den nicht politisch begründeten "Widerstand" zu erklären, der "durchaus politisch wirkte" (S. 528). Der "Widerstand" der Zeugen Jehovas war vielmehr die Selbstbehauptung und Selbstachtung einer religiösen Gruppe gegenüber einem System, das jedes Recht auf individuelle "Glaubens- und Lebensweise" verneinte.

Die differenzierte Untersuchung basiert auf umfangreichem und vielfältigem Quellenmaterial, das sich aus Archivalien der verschiedenen Verfolgungs- und Verwaltungsbehörden sowie aus autobiographischen Berichten und Interviews ehemals verfolgter Zeugen Jehovas zusammensetzt.

Renate Riebe, Hannover



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000