Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Verlag Alexander Fest, Berlin 2000, 447 Seiten, kart., 68 DM.

13001 Quellentitel aus der Literatur des Ersten Weltkrieges hat der Bochumer Philosoph Kurt Flasch sammeln lassen. Über dieses Material hat er nun einen „Versuch" vorgelegt, der vorgibt, Neuland erschließen zu wollen. Um es vorwegzunehmen: Flasch fällt nicht nur hinter die von ihm nur sporadisch zitierte, kaum zur Kenntnis genommene und selten verarbeitete Forschungsliteratur zurück, es fehlt dem Kenner mittelalterlicher Philosophie auch an historischer Kompetenz, um mit den Quellentexten einigermaßen mithalten zu können. Hinzu kommt noch ein Oberlehrerstil, der mit unerschütterlicher Arroganz den Leser peinigt. So muss man Sätze wie diesen lesen: „Obwohl [...] Troeltschs Konzeption des Christlichen in Frage steht, will ich hier mit ihm keine religionsphilosophische Diskussion führen. Seine Rede vom 2. August ist dafür zu anspruchslos, zwar nicht in ihren Behauptungen, wohl aber in ihren Argumenten." (S. 46)

Das Thema von Flasch, die geistige Mobilmachung im Ersten Weltkrieg, insbesondere die der Philosophen, bietet eigentlich einen reichen Steinbruch für sozial-, kultur- und ideengeschichtliche Fragestellungen. Und so besitzt die Beschäftigung mit dem geistigen Beitrag zum „Great War" eine lange Tradition. In seiner „Politischen Philosophie" von 1963 hat Hermann Lübbe, den Flasch passagenweise vergeblich nachzuahmen versucht, einige herausragende Philosophen analysiert und Klaus Schwabe widmete 1969 der „Wissenschaft und Kriegsmoral" der deutschen Professorenschaft eine gründliche Studie. In ähnlicher Weise wurden später Theologen, Literaten, Historiker, Nationalökonomen und bildende Künstler untersucht. Gerade in den letzten Jahren hat der Erste Weltkrieg als vielbeschworene „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" verstärkt Beachtung bei Sozial- und Ideenhistorikern gefunden. Nach Lübbe wurde die Philosophie des Ersten Weltkrieges jedoch eher mit spitzen Fingern angefasst. Während die Philosophen die Geschichte ihrer Zunft traditionell als Problemgeschichte großer Denker betrieben, näherten sich die Historiker vorwiegend biographisch bzw. schulbiographisch der Philosophiegeschichte im Ersten Weltkrieg.

Um den erreichten Kenntnisstand zu erweitern, müssten zwei Postulate eingelöst werden: Die politische Philosophie jener Zeit müsste als Ganzes betrachtet werden, um falsche Originalitätszuschreibungen und eine Entkontextualisierung von philosophischen Schulen zu vermeiden. Daneben müsste endlich die nationalstaatlich konzentrierte Geschichtsschreibung zugunsten eines komparativen Vorgehens aufgegeben werden. Der Erste Weltkrieg war ein europäisches Ereignis und auch der geistige Krieg ist nicht als isoliertes nationales Unternehmen, sondern als polemisches Gespräch zu verstehen. Flasch genügt beiden Forderungen nicht, obwohl sie ihm einzuleuchten scheinen. Den ersten Punkt umgeht er damit, dass er einerseits von den „deutschen Intellektuellen" spricht und damit einen sehr großen Anspruch formuliert, andererseits in der Durchführung vorwiegend wenige Philosophen heranzieht, zu allem Unglück auch noch solche, die schon dutzendfach behandelt wurden (Eucken, Scheler, Troeltsch, Simmel, Cohen, Natorp). Hätte Flasch bei seinem Weg durch seine umfangreiche Bibliographie nicht einmal Seitenpfade betreten können?

Das zweite Postulat wehrt er dezisionistisch ab, indem er behauptet: „Die parallelen Vorgänge in England, Frankreich und vor allem in Italien haben mich beschäftigt, aber hier konzentriere ich mich auf deutsche Stimmen. Wir haben es, denke ich, in dieser Sache zunächst einmal mit uns selbst zu tun." (S. 9) Dieser nationalistisch verengte Blickwinkel führt dazu, dass Flasch zwar über weitreichende Folgerungen aus der Weltkriegsliteratur bis in die Sechzigerjahre der Bundesrepublik hinein spekuliert, die Struktur der geistigen Kriegführung ihm jedoch völlig entgeht. Es ist bezeichnend, dass Flasch das fesselnde Buch von Wolfgang und Jürgen von Ungern-Sternberg über den berühmten „Aufruf an die Kulturwelt" (1996) nicht kennt, in dem die Verfasser die defensive Dimension der geistigen Kriegführung herauspräparieren und auf die Tradition des Kulturliberalismus verweisen, der zuvor schon gegen Kaiser und Konservativismus seine Stimme erhoben hatte. Bei Flasch erfährt man über den Ursprung des Krieges der Geister hingegen nur den dürren Satz: „Die Gelehrten und Künstler der Feindländer haben inzwischen den ‚Kulturkrieg’ gegen Deutschland eröffnet." (S. 55)

Zu den strukturellen Unzulänglichkeiten in Flaschs Studie gesellen sich zahlreiche sachliche Fehler. In Unkenntnis der Arbeiten u. a. von Friedrich Wilhelm Graf behauptet er, über Rudolf Eucken gebe es keine neuere Literatur und nennt als jüngste Studie den Beitrag in Gerhard Lehmanns Die deutsche Philosophie der Gegenwart von 1943 (!). Paul Rohrbach wird zum „wichtigsten Schriftsteller" der Alldeutschen, obwohl er und Ernst Jäckh in der Zeitschrift Das Größere Deutschland die Alldeutschen bekämpften und diese Zeitschrift verließen, nachdem sie 1915 in annexionistische Hände übergegangen war, und in einem neuen Organ, der Deutschen Politik, die Vaterlandspartei kritisierten. Der Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg („Die Welt des Mittelalters und wir") wird von Flasch hartnäckig als „J. P. Landsberg" vorgestellt. Zu diesen Fehlern gesellen sich Fehlurteile. Ernst Troeltsch wird mit seinem Ausspruch „Lebe deutsch!" fälschlicherweise in den Kontext einer Verabschiedung der Internationalität der Wissenschaft gestellt, obgleich sich Troeltsch auch während des Krieges mehrfach gegen eine Renationalisierung der Wissenschaft ausgesprochen hat und die wissenschaftliche Internationalität auch noch im Krieg als „Unterpfand des Friedens" betrachtete. Über die Kant-Rezeption im Ersten Weltkrieg äußert Flasch: „Man stand vor der Wahl, ihn entweder preußisch-militaristisch umzudeuten oder ihn als Utopisten des ewigen Friedens zu kritisieren" (S. 71). Der erste Teil dieser angeblichen Alternative arbeitet schlicht mit den englischen Stereotypen aus der Weltkriegszeit, der zweite Teil verkennt das Wesentliche des Kantdiskurses. Es ging hierbei um den Gegensatz von partikularistischen und universalistischen Ordnungsmodellen, wobei letztere in der Tradition der Französischen Revolution und von Fichte als nationale Weltaufgabe konzipiert wurden. Flasch versteht es nicht, das Augusterlebnis sozial zu differenzieren, obwohl die Studie von Jeffrey Verhey („The Spirit of 1914") schon länger einsehbar ist. Besonders absurd ist, dass Flasch einen Gliederungspunkt „Juden" behandelt, unter dem er Hermann Cohen, den Nichtjuden Natorp und Georg Simmel anführt, dessen Kriegsphilosophie wenig bis gar nichts mit dem Judentum zu tun hatte. Gleich zweimal wird von Flasch erwähnt, dass der Münsteraner Ökonom Johann Plenge 1933 den Begriff „Nationalsozialismus" als sein geistiges Eigentum betrachtete. Was soll dieser Hinweis erklären?

Die vielen Besserwissereien, historischen Schnitzer und oberflächlichen Bewertungen können der Vielgestaltigkeit der Weltkriegsliteratur, die streckenweise wie im gymnasialen Deutschunterricht interpretiert wird, nicht gerecht werden. Die vielfach vorhandene Überspanntheit der Weltkriegsphilosophie müsste vergleichend bewertet und historisch eingeordnet werden. Dann bliebe immer noch viel, worüber man sich als akademischer Nachfahre, gelinde gesagt, wundern könnte. Flaschs Buch enthält keine übergreifende These, dafür spricht er viel von Methodenbewusstsein. Allerdings besteht dieses Methodenbewusstsein aus einigen Privatgedanken Flaschs; an keiner Stelle wird sichtbar, dass er Einblick in die kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre besäße. Die Aussicht auf die Veröffentlichung von Flaschs Bibliographie auf CD-ROM entschädigt nicht für ein äußerst mangelhaftes Literaturverzeichnis. Einige Leser werden hier und da einen unbekannten Krümel in Flaschs schön bebildertem Buch entdecken. Allen anderen ist mit den Arbeiten z. B. von Michael Jeismann, Ulrich Sieg, Thomas Raithel, Verhey oder dem Klassiker Lübbe besser gedient. Flaschs fehlgeschlagener Versuch zeigt allerdings, dass noch viele Fragen zum Thema offen sind und dabei durchaus unterschiedliche Ansätze gefragt sind: so eine Sozialisationsgeschichte der kriegführenden Intellektuellen, die Klaus Tenfelde auf dem Frankfurter Historikertag eingefordert hat, eine diskursorientierte Ideengeschichte und eine die politische Dimension berücksichtigende Kulturgeschichte. Letztlich besteht dann auch wieder der Bedarf an Synthesen, welche über die unterschiedlichen Ergebnisse der Forschung jedoch informiert sein müssen.

Peter Hoeres, Münster



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