Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Germaine Tillion, Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Verlag zu Klampen, Lüneburg 1998, 410 S., geb., 48 DM.

Eine der umfangreichsten Studien zum Frauenkonzentrationslager Ravensbrück liegt nun, 52 Jahre nach Veröffentlichung der Erstfassung, überarbeitet in deutscher Übersetzung vor. Die Französin Germaine Tillion, als Ethnologin von der Académie Française ausgezeichnet, verknüpft die persönlichen Erinnerungen einer Überlebenden mit dokumentarischen Abschnitten und wissenschaftlichen Reflexionen über das Lagerleben und das KZ-System. Tillion wurde im Oktober 1943 wegen ihrer Widerstandstätigkeit nach langen Gefängnisaufenthalten als „Nacht- und Nebel-Häftling" nach Ravensbrück deportiert.

Ihre Notizen und Stichpunkte aus den Jahren 1942 bis 1945 umfassen persönliche Erlebnisse, aber auch Namenslisten deportierter und ermordeter Kameradinnen aus dem Frauen-KZ. Hilfreich waren ihre guten Kontakte zu den Häftlingen in den Schreibstuben der Kommandantur, die heimlich Kopien von Transportlisten anfertigten. In ihren späteren Reflexionen fragt Tillion, ebenso wie Hermann Langbein und Eugen Kogon, nach Hintergründen und Zusammenhängen innerhalb des KZ-Systems, nach Motiven der Täterinnen und Täter und der wirtschaftlichen Ausbeutung der Häftlingsarbeit.

Ein weiterer Schwerpunkt bilden die Beobachtungen der Häftlingsgesellschaft, ein Versuch die Hierarchien innerhalb der erzwungenen Gemeinschaft zu analysieren, die Häftlingsgruppen und verschiedenen Nationalitäten aus einer ethnologischen Perspektive zu beschreiben. Dabei betont Tillion, dass die Unterschiede zwischen den „relativ üppigen Lebensbedingungen einer Lagerpolizistin oder einer polnischen, tschechischen oder deutschen Blockältesten" und denen der „französischen Plebs, zu der ich gehörte, größer waren als die zwischen dem Lebensstandard der englischen Königin und der Bewohnerin eines Londoner Nachtasyls".

Als noch schlechter beschreibt sie die Lage für die ab November 1944 in großer Zahl nach Ravensbrück verschleppten ungarischen Jüdinnen, Sinti und Roma - zu Skeletten abgemagerte Frauen, die auf der letzten Stufe des moralischen und physischen Verfalls angelangt waren.

Unter unmittelbarer Todesbedrohung standen auch die Opfer pseudo-medizinischer Experimente, die im Frauen-KZ Ravensbrück stattfanden. Die Mehrzahl von ihnen waren Polinen, die operiert und verstümmelt wurden - viele starben an den Folgen der Operationen oder wurden anschließend erschossen. Tillion schildert ausführlich diese Verbrechen, aber auch eindrucksvolle Zeugnisse individueller Solidarität, wie die Rettung 63 polnischer Versuchsopfer vor der drohenden Hinrichtung im Februar 1945. Die gefährdeten Frauen, im Lagerjargon „Kaninchen" genannt, konnten von Mithäftlingen bis zur Befreiung vor der SS versteckt werden: „Das ganze Lager wußte um das Drama der ´Kaninchen`. Sie sind nie verpfiffen worden."

Die Mutter von Germaine Tillion, fast 70-jährig ebenfalls nach Ravensbrück deportiert, konnte nicht gerettet werden. In einer erstmals fast das gesamte Frauenlager umfassenden Selektion am 2. März 1945 wurde sie in das zum Sterbelager umfunktionierte Jugend-KZ Uckermark abtransportiert und dort ermordet. Germaine Tillion selbst entging dieser Selektion, schwerkrank versteckt in einem Krankenbett. Die verzweifelte Suche nach dem Verbleib der Mutter und die ausführliche Darstellung der Selektionen gehören zu den traurigsten und erschütternsten persönlichen Schilderungen in diesem Buch.

Den Abschluss der Dokumentation bildet der Aufsatz von Anise Postel-Vinay, die zusammen mit Germaine Tillion Ravensbrück überlebt hat. Sie beschreibt die verschiedenen Phasen von Massentötungen durch Gas in Ravensbrück.

Das vorliegende Buch ist eine eindrucksvolle Darstellung der Verbrechen in Ravensbrück, aber auch ein Zeugnis der Solidarität von Mitgefangenen, denn: „wenn ich überlebt habe, so verdanke ich dies ganz sicher in erster Linie dem Zufall, des weiteren meiner Wut sowie dem Willen, alle diese Verbrechen aufzudecken, und schließlich einer Koalition der Freundschaft, denn den kreatürlichen Lebenswillen hatte ich verloren".

Renate Riebe, Hannover



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