Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Ursula Prutsch, Das Geschäft mit der Hoffnung. Österreichische Auswanderung nach Brasilien 1918-1938, Böhlau Verlag, Wien 1996, 303 S., brosch., 69,80 DM.

Mit ihrer Studie über die österreichische Auswanderung nach Brasilien schließt Ursula Prutsch ein Forschungsdesiderat, da außer einigen Diplomarbeiten und kürzeren Aufsätzen für die Zeit der 1. Österreichischen Republik bisher keine Untersuchungen zu dem Thema vorliegen. Das Forschungsinteresse ihrer Arbeit liegt in der Analyse der komplexen Push- und Pull-Faktoren, welche die Wanderung beeinflussten. Ihre Forderung, die sozioökonomische Situation im Zielland und die dortige Einwanderungspolitik einzubeziehen, von ihr als Versäumnis bisheriger Forschungen benannt, kennzeichnet inzwischen viele deutsche und amerikanische Studien zur Migrationsgeschichte und sollte als unverzichtbar gelten.

Nach einer kurzen Darstellung der sozioökonomischen, politischen und demographischen Bedingungen in Österreich und Brasilien behandelt Prutsch die offizielle Wanderungspolitik in beiden Ländern. In Brasilien bestimmte bis 1930 der Arbeitskräftemangel die staatliche Politik: Intensive Werbung, um das schlechte Image Brasiliens als Einwandererland zu bekämpfen (das ausbeuterische Arbeitssystem, Gelbfieberepidemien und ein für Europäer unerträgliches subtropisches Klima) gehörten ebenso zum Repertoire wie die Finanzierung von Passagen und die Bereitstellung von Land für Siedlungsprojekte. Erst mit der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde die Einwanderungspolitik mit der Einführung von Quoten und der Bevorzugung von brasilianischen Arbeitskräften zunehmend restriktiv. Die österreichische Politik war dagegen eher ambivalent und zögerlich; erst 1920 wurde eine offizielle Auskunftsstelle für Auswanderungsfragen errichtet, um potentielle Auswanderer und Auswanderinnen mit soliden Informationen über die Situation im Einwanderungsland zu versorgen. Aufgrund der vielen privaten Initiativen, welche die Lage oft rosiger schilderten, als sie tatsächlich war, stellte sich die Auskunftsstelle als praktische Notwendigkeit dar.

Vor diesem globalen Hintergrund stellt Prutsch zahlreiche private und staatliche Auswanderungsprojekte vor – von der Aktion Gamillscheg in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Projekt Thaler in den 1930er Jahren. Die Aktion Gamillscheg stellt ein interessantes Phänomen in der politischen und sozialen Umbruchsituation in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg dar. Ca. 10.000 arbeitslose Offiziere waren auf der Suche nach einem neuen Wirkungskreis, und einige von ihnen zogen auch eine Auswanderung nach Brasilien in Betracht. Von den 5.000 Auswanderern des Jahres 1919 waren zehn Prozent ehemalige Militärs, die damit einen überproportionalen Anteil an der Wanderung hatten. Das von dem ehemaligen Rittmeister Gamillscheg organisierte Auswanderungsprojekt, das ihre Ansiedlung in einer gemeinsamen Kolonie vorsah, endete allerdings erfolglos – nicht zuletzt wegen der positiv gefärbten Berichte des Organisators über die Lage in den ländlichen Gebieten Brasiliens. Viele Teilnehmer wanderten nach kurzer Zeit in die Städte ab oder suchten dort gleich nach ihrer Ankunft einen Arbeitsplatz.

Zahlreiche der von Prutsch beschriebenen Ansiedlungsprojekte in Brasilien scheiterten, sei es aus unternehmerischer Unfähigkeit der Organisatoren, sei es aus gewissenloser Geschäftemacherei. Den chronologischen Schlusspunkt der Projekte bildet die vom ehemaligen österreichischen Landwirtschaftsminister Thaler initiierte Ansiedlung Tiroler Bauernsöhne in Dreizehnlinden in Brasilien, die 1933 begann. Eines der wesentlichen Ziele Thalers war der Erhalt der österreichischen Identität, den er durch die geschlossene Form der Ansiedlung gewährleistet sah. Obwohl auch dieses Projekt mit vielerlei Schwierigkeiten konfrontiert war (u.a. der autoritäre Führungsstil Thalers), hatte es über den Zweiten Weltkrieg hinaus Bestand. Prutsch vervollständigt ihre Untersuchung durch ein kurzes Kapitel über das Brasilien der 1930er Jahre. Der Einfluss der politischen und ideologischen Auseinandersetzungen in Europa auf die deutsch-österreichische Kolonie mit ihren Schulen und Zeitungen wird hier ebenso herausgearbeitet wie die Konsequenzen des „Anschlusses" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland.

Prutschs Studie basiert auf Archivmaterial des österreichischen Wanderungsamtes, auf gedruckten österreichischen und brasilianischen Quellen sowie Memoiren von Brasilienauswanderern. Darüber hinaus hat die Autorin einen umfangreichen Zeitschriftenbestand zugezogen und Zeitzeugen befragt. Auf dieser Grundlage entsteht ein differenziertes Bild der österreichischen Brasilienauswanderung, das im Schlussteil ihrer Arbeit in die allgemeine österreichische Wanderungsstatistik eingeordnet wird. Das Buch ist sehr detailreich, verliert sich an manchen Stellen jedoch in wenig relevanten Kleinigkeiten. Die übersichtliche Gliederung macht diesen Nachteil jedoch wett, da die einzelnen Projekte in sich geschlossen dargestellt werden und somit auch unabhängig voneinander gelesen werden können.

Karen Schniedewind, Bremen



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