Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Benno Ennker, Die Anfänge des Leninkults in der Sowjetunion, (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 22), Verlag Böhlau, Köln etc. 1997, 379 S., geb., 98 DM.

Über den Leninkult in der frühen Sowjetunion herrschte in der bisherigen Forschung ein Konsens, den der Autor der vorliegenden Studie, der Tübinger Osteuropahistoriker Benno Ennker in drei Punkten zusammenfasst. Der Totenkult um Lenin sei erstens gezielt von Stalin gestiftet worden, der, zweitens, damit auf Bedürfnisse in der russisch-orthodoxen Bevölkerung eingegangen sei. Drittens seien in das Ritual auch quasi-religiöse Motive eingeflossen, die auf Angehörige der vorrevolutionären Intelligenzija zurückgingen, die Einfluss auf die bolschewistische Führungsschicht gehabt hätten. Diese Ansichten stützten sich auf spärliche Erinnerungen von eigentlich nicht mehr als einem Emigranten (Valentinov-Vol’skij), ferner auf die Analyse des Kults anhand seiner typischen Erscheinungsformen, wie sie vor allem die sowjetische Presse und ausländische Beobachter festhielten, und schließlich auf theoretische Annahmen der Forscher. Ennker hingegen kann erstmals unter Benutzung einer beachtlichen Bandbreite russischer Archivalien diese Annahmen weitgehend widerlegen und ein nüchternes, stimmiges Bild der Genese und der Formen des Leninkults zeichnen.

Ennker weist einleuchtend darauf hin, dass der Leninkult nicht mit der russischen „Rückständigkeit" (für welche in den Augen vieler Betrachter die Religiosität der wesentliche Indikator sein dürfte) in Verbindung gebracht werden dürfe, schon angesichts der führerverherrlichenden „Gesänge" westlicher Intellektueller und „fellow travellers". An der These eines von der Volksreligiösität inspirierten Leichenkults musste ohnehin schon irritieren, dass der Volksglaube gerade eine Beerdigung und keineswegs eine Mumifizierung Lenins gefordert hätte. In den öffentlichen Zeremonien nach Lenins Tod habe es zwar Teilstücke aus dem zaristischem Trauerritual gegeben, aber die Balsamierung habe gerade nicht dazu gehört. Aus den Quellen arbeitet Ennker heraus, dass in den Diskussionen der Parteiführer über die Aussetzung der Beerdigung Lenins die vierzig Tage orthodoxer Fürbittzeit schlichtweg keine Rolle spielten. Vielmehr ergab sich das praktische Problem, Lenins Leiche zur Verlängerung der Besuchszeit für die Provinzbevölkerung zu konservieren. In diesem Punkt tendierten die bisherigen Untersuchungen und Forschungsarbeiten zu der Erklärung, die Parteiführung habe notgedrungen auf die „vox populi" reagiert, die die Mumifizierung erzwungen habe. Auch dies war ein Denkfehler, der sich durch die Forschung schleppte, denn schon in seiner Frühphase zeigte der Sowjetstaat an keiner anderen Stelle, dass er auf öffentliche Meinung Rücksicht zu nehmen gedachte.

Spätere Forscher nahmen die Behauptung einer Forderung aus dem Volk auch deshalb für bare Münze, weil eine Kommission zur Beisetzung Lenins sich auf „tausende" einschlägiger Briefe aus der Provinz berief, freilich ohne deren Inhalt publik zu machen – was auch die spätere sowjetische Historiographie nicht nachholte. Ennker wertete die in den Akten dieser Kommission vorliegenden – in Wahrheit gerade fünfzehn – Briefe aus und verfolgt akribisch, wie von Arbeitern gemachte Eingaben zurechtgestutzt wurden, bis sie im gewünschten Sinn publikationsfähig waren, wobei die Moskauer Tageszeitung „Raboèaja Moskva" besonders engagiert war. Die interne Diskussion über die Dauer und die Form der Feierlichkeiten nach Lenins Tod verlief auch keineswegs zwischen den Anhängern und Gegnern Stalins. Dieser hielt sich weitgehend zurück; es fällt sogar auf, dass er als letzter in die öffentliche Trauerrhetorik und Panegyrik einstimmte. Erst auf der Trauerversammlung am 26. Januar 1924 appellierte er – sich auf den ZK-Auftrag berufend – an die Kommunisten als Kultgemeinde statt an die Masse. Insofern bleibt wenig von einer gezielten Instrumentalisierung „bäuerlich-religiöser" Traditionen durch Stalin. Unter den Gegnern eines Leichenkults befand sich mit Voroðilov auch ein eindeutiger Parteigänger des Generalsekretärs. Ein einfaches Begräbnis wurde ferner – im Einklang mit Lenins Wunsch – von seiner Witwe Krupskaja gefordert. Am wichtigsten für die Verlängerung der Abschiedzeremonie für Lenins Leichnam bis hin zur Errichtung eines Mausoleums war Dzierýyñski, der – wie Ennker vermutet, aber nicht mit Quellen belegen kann – vielleicht mit der Einführung des Kultes die zerstrittene Partei einigen wollte.

Neben solchen überzeugenden Überlegungen Ennkers verblassen auch ältere Annahmen der Forschung, dass die Einbalsamierung auf einen pseudowissenschaftlichen Glauben an eine Totenerweckung in der Zukunft zurückging, der unter manchen Vertretern der alten Intelligenzija verbreitet war. Ennker weist darauf hin, dass dies allenfalls bei Krasin nachzuweisen sei, der aber in der Entwicklung des Leninkults nur eine periphere Rolle spielte. Auch die von Nietzsche inspirierten Erwartungen eines neuartigen „Helden", der Gegenstand der kultischen Verehrung sei, fanden sich nur bei Lunaèarskij, hierin Außenseiter innerhalb der Parteiführung. Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass der Kult aus rein politischen Nützlichkeitserwägungen ins Leben gerufen wurde, dass die Bolschewiki bewusst neue Traditionen installierten, weil sie kein Vertrauen in eine Selbstregulation der Gesellschaft hatten.

Von diesem Resümee leiten sich Ennkers weiterführende eher theoretische Erwägungen ab. Er setzt sich nicht nur quellenimmanent und streng auf die Innensicht bezogen mit dem Verhältnis des Leninkults zur Religion auseinander, sondern diskutiert an vielen Stellen auch die strukturellen Ähnlichkeiten beider Kultsysteme. Dies ist besonders interessant, da in letzter Zeit im Zuge der Neudiskussion des Totalitarismus-Ansatzes und der verstärkten vergleichenden Betrachtung verschiedender Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts das Modell der „politischen Religion" gerade auf die Herrschaft der Bolschewiki angewandt wird.

Ennker spricht über eine „mythische Erzählung", die sich aus den Aussagen in den Trauermanifesten ergebe und alle „Qualitäten des Mythos" aufweise (S. 107). Es sei ein regelrechter Ursprungsmythos geschaffen worden, in dem Lenin als Inkarnation der Arbeiterklasse figurierte. Mit dem Philosophen Ernst Cassirer (und auch unter Erwähnung von Herbert Marcuse, der im Leninismus magische Elemente dignostiziert hat) geht Ennker so weit, den Anfang des Mythos in objektiver (Zauber-)Kraft des Zeichens zu sehen. Der Leninkult sei damit - trotz rationaler Diskurse der überwiegenden Mehrzahl der beteiligten Parteiführer – ein mythogenes Politisierungskonzept, in dem Lenins Vermächtnis von der Partei als „heilig" dargestellt wurde. Lenin wurde so zu einer „heilbringenden" mythischen Figur.

Ennker wendet also Begriffe aus der Religionswissenschaft an, doch schränkt er sehr dezidiert ein, dass Kult nicht mit Religion gleichgesetzt werden dürfe. Die „para-religiösen Formen" verstellten allzuleicht den Blick für den politischen Sinn des Kultes und das Herrschaftsinteresse hinter ihm. Entscheidend sei, dass – so sehr auch ein „Mythos" mit religiösen Konnotationen geschaffen worden sei – dieser an keine überweltliche Wahrheit gebunden worden sei. Wiederum mit Cassirer argumentiert Ennker, dass man von Religion nur reden könne, wenn Heiliges und Profanes getrennt seien. Damit könne (profane) Politik keine Religion sein, allenfalls in der Produktion des Mythos deren Formen kopieren. Man könnte hier einwenden, dass das Heilsversprechen des Kommunismus im Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft durchaus etwas „Heiliges", nämlich den Erfahrungs- und Lebenshorizont des Einzelnen Transzendierendes, versprach. Der Kommunismus ließe sich damit nicht zwangsäufig als „Religion", aber doch als Versuch einer Hierokratie deuten, nämlich der Herrschaft der Agenten jener utopischen Transzendenz – dies wären theoretische Ansätze, für die sich aus Ennkers Darstellung reiches Material finden lässt, freilich auch triftige Gegenargumente.

Schließlich bietet das Buch noch erschöpfende, mit großer Akribie zusammengetragene Informationen über Details der physiologischen Debatte um die Leichenkonserverierung, über die Baugeschichte des Mausoleums und über die (per Gesetz zur Ähnlichkeit verpflichtete) Leninabbildung in Repräsentations- und Gebrauchskunst. Dass diese Passagen teilweise etwas ermüdend zu lesen sind, mindert in keiner Weise den Wert der Abhandlung als Beitrag zur Geschichte der frühen Sowjetunion ebenso wie zur gerade erst begonnenen Historisierung des Kommunismus.

Matthias Vetter, Frankfurt



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