Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Barry McLoughlin/Hans Schafranek/ Walter Szevera, Aufbruch - Hoffnung - Endstation. Österreicherinnen und Österreicher in der Sowjetunion 1925-1945, Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1997, 720 S., geb., 82 DM.

Die Autoren des Bandes, östereichische Historiker, gehören zu jenen ersten ausländischen Forscher, die schon am Ende der 1980er Jahre intensiv über das Schicksal der österreichischen Gulagopfer in den 1920er und 1930er Jahren recherchiert haben. Sie waren auch unter denjenigen, die energisch die Öffnung sowjetischer Geheimarchive seit 1991 zu nutzen verstanden. Inzwischen zeigt sich leider, dass damals die Eile der Archivarbeiten mehr als geboten war. Heute ist in Russland der Zugang zu den Dokumenten schon wieder viel schwieriger als 1991/93. Manche Bestände, die geöffnet worden waren, sind bereits wieder gesperrt - wie z. B. einige Akten des Kominternarchives.

Der vorliegende Band ist aus verschiedenen Forschungen der letzten Jahre entstanden: aus Archivrecherchen, der Auswertung von Erinnerungsliteratur und aus Interviews mit Zeitzeugen. Das Buch ist in gewisser Weise das Endergebnis langjähriger Forschungs- und Publikationstätigkeit der Autoren. Es ist eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Österreicher in der Sowjetunion zwischen 1925 und 1945.

Die unterschiedlichen Emigrationswellen und Besucherströme werden alle erfasst, angefangen mit den ersten Arbeiterdelagtionen, die seit Mitte der 1920er Jahre regelmäßig in die UdSSR kamen und deren Mitglieder meistens voller Begeisterung und mit sehr romantischen Erwartungen in das Land der siegreichen Revolution kamen.

Ein völlig unbekanntes Thema findet man in Hans Shafraneks Darstellung der Entstehung und Auflösung der von österreichischen Umsiedlern gegründeten Kolonie in Ksyl-Orda. Das Beispiel zeigt, wie im Rahmen eines großen kommunistischen Projekts mehrere Unterprojekte in Form von verschiedenen Kommunen und Kolonien entstanden, um dann am Ende der 1920er, am Anfang der 1930er Jahre allesamt zu scheiterten. Der Sowjetstaat wurde immer totalitärer und duldete nur solche Strukturen, die sich vollkommen kontrollieren ließen.

Besonders gelungen ist der von Walter Szewera verfasste Teil, der die Emigration österreichischer Facharbeiter in den 1930er Jahren behandelt. Das Verdienst des Autors besteht ohne Zweifel darin, dass er das Leben und die Arbeit der österreichischen Ingenieure und Facharbeiter ausführlich vor dem Hintergrund des sowjetischen Alltags beschreibt und mit zahlreichen statistischen Angaben zu Löhnen, Preisen und Wohnverhältnissen belegt. Diese Darstellung besitzt zumal für den russischen Leser den Vorzug, dass das sowjetische Alltagsleben vom Standpunkt des Ausländers beschrieben wird. Dadurch wird das historische Bild realistischer und lebendiger und gibt Gelegenheit, das manchmal für Russland schmerzhafte Problem der Beziehung zu den Fremden - in diesem Falle zu den österreichischen Facharbeitern - zu behanden. Die Fakten in diesem Band zeigen deutlich, das der Fremdenhass und die „Spionomanie" schon viel früher als gemeinhin angenommen die Beziehungen zwischen den Fremden und Einheimischen prägten.

Eine komplizierte Aufgabe hatte Barry McLoughlin in seinem Beitrag über die Schutzbund-Emigration zu lösen. Erstens gilt dieses Kapitel der österreichischen Emigration in die Sowjetunion als am meisten bekannt und erforscht. Die Geschichte der Schutzbündler war überdies besonders stark mythologisiert und wurde von der sowjetischen Propaganda ähnlich wie später die Kinder aus Spanien missbraucht. In dem vorliegenden Buch wird dagegen ein vielschichtiges Bild gezeichnet - von dem ersten feierlichen Treffen 1935 bis zu den späteren Enttäuschungen, Verhaftungen, Zwangsausweisungen und Auslieferungen an die Nazis.

Das Thema „Österreicher als Gulag-Opfer" darf nicht fehlen, auch wenn es schon in vielen Publikationen meist der gleichen Autoren untersucht worden ist. Der vorliegende Band bietet aber mehr als nur eine Zusammenfassung, nämlich beindruckende Beispiele konkreter Lebensgeschichten, bereichert durch Informationen aus den Untersuchungsakten des KGB-Archivs. Besonders symbolisch scheint das Schicksal des Altkommunisten Fritz Koritschoner zu sein: in die UdSSR emigriert, vom NKVD verhaftet, an die Nazis ausgeliefert und in Auschwitz umgekommen.

Diese Buch ist mehr als eine Zusammenfassung früherer Forschung. Der Ton und der Stil der Autoren ist viel ruhiger und differenzierter geworden als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Damals diktierte die Konfrontation mit den alten dogmatischen Kräften eine besondere Schärfe der Polemik - gerade wenn es um die Rolle der ÖKP-Führung ging. Nun ist es möglich geworden, die Zeitgeschehnisse distanzierter zu betrachten. Dadurch wird das historische Bild mehrdimensionaler.

Gegenüber der Fülle von Fakten, Angaben und Beschreibungen wirken leider die analytischen Passagen des Bandes blasser. Hier machen sich bereits die neuen Zugangsbegrenzungen zu den sowjetischen Archiven bemerkbar. Man spürt das Fehlen von Direktiven, Befehlen, Erlassen, Anweisungen, welche konkrete Schritte der stalinschen Politik gerade gegenüber den Ausländern und verschiedenen Völkern der Sowjetunion erklären könnten. Gerade die Situation der Östereicher war in der UdSSR besonders zwiespältig. Bis 1938 wurden sie von den Deutschen, ab 1938 dann zusammen, und nach 1945 wieder getrennt behandelt.

Ohne Zweifel erhält ein Interessierter durch das vorliegende Buch einen komplexen Überblick über die Österreicher in der Sowjetunion. Man kann nur bedauern, dass die heutige wirtschaftliche Situation in Russland dieses Buch für den russsischen Leser fast unzugänglich macht.

Irina Šerbakova, Moskau



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