Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Danielle Tartakowsky, Les manifestations de rue en France 1918-1968, Paris, publications de la Sorbonne, 1997, 869 S., kart., 280 FF.

Die Straßendemonstration ist in Frankreich ein Phänomen von ungeheurer politischer und sozialer Bedeutung, sichtbarer Ausdruck, „manifestation„, eines Anliegens, das Menschenmassen in Bewegung setzen kann. Schon die quantitative Erfassung und die Beschreibung dieses Phänomens überschreitet eigentlich die Arbeitskraft eines einzelnen Forschers. Danielle Tartakowskys monumentale Thèse d’Etat analysiert über einen Zeitraum von 50 Jahren 15.000 Straßendemonstrationen, die Teilnehmer und die Organisatoren, die Fahnen und Slogans, die Route und den Zeitpunkt, die Reaktionen der Ordnungskräfte und die Auswirkung auf die öffentliche Meinung. Aus dieser systematischen Auswertung aller Demonstrationen, über die die nationale Presse und/oder die Präfekten berichtet haben, ist eine Studie hervorgegangen, die nach Umfang und Anspruch mit Michelle Perrots großer Arbeit über den Streik vergleichbar ist.

Anders als der Streik hat jedoch die Demonstration innerhalb des französischen politischen Systems einen Stellenwert, den sie in keiner anderen westlichen Demokratie besitzt. Das ist umso überraschender, als die Demonstration – wiederum anders als der Streik – rechtlich nicht abgesichert, ja nicht einmal definiert, eigentlich ein Fremdkörper im parlamentarischen System ist, dessen durch das allgemeine Wahlrecht legitimierte Institutionen und Entscheidungen sie oft genug in Frage stellt. Im Mittelpunkt der Arbeit steht deshalb die Frage, wie und weshalb sich die Demonstration einen Platz innerhalb des französischen politischen Systems erobern konnte, den die Verfassung ihr niemals eingeräumt hat.

Die Anthropologie der Demonstration tritt demgegenüber in den Hintergrund, obwohl Tartakowsky auch dazu einen Beitrag leistet, indem sie die Demonstration als kulturelle Praxis beschreibt: ihre Herkunft aus den katholischen Prozessionen, die Markierung und Besetzung eines Raumes nicht durch ein Denkmal, sondern durch das Abschreiten, Begehen eben dieses Raumes, ihre Rolle als Initiationsritus für Jugendliche, die emotionale Spannung, die der Toten- und Märtyrerkult Demonstrationen verleiht, auch wenn es um den Tod eines Unternehmens, das Sterben einer Region geht.

Weil die Demonstration aber mehr ist als eine bloße Praxis, weil sie politische Kultur ist, bildet ihre Beziehung zum Staat den Leitfaden der Analyse. Denn selbst dort, wo der Staat nicht als Adressat der Demonstranten sichtbar wird, weil sie scheinbar nur sich selbst und ihre Zahl zeigen, ist der Staat ihr verborgener Bezugspunkt. Seit 1880, als die siegreiche Dritte Republik begann, die Straße als öffentlichen Raum und das Gedenken an die große Revolution zu besetzen, machte jede Demonstration den offiziellen Paraden und Inszenierungen die Straße streitig. „L’usage occasionnel et partisan de la rue„, wie Tartakowsky die Demonstration definiert, steht so in Konkurrenz zum Gebrauch, den der Staat von der Straße und zugleich von den Erinnerungen macht, die mit gerade diesen Straßen verknüpft sind.

Die verschiedenen Formen von Demonstrationen, die zwischen 1880 und 1900 in Frankreich entstanden, fasst Tartakowsky zu vier Idealtypen zusammen, deren Wurzeln weit in das kollektive Gedächtnis der Nation zurückreichen. Die „manifestation-insurrection„ zitiert die Aufstände des Ancien Régime mit einem Marsch auf ein Gebäude, das eine staatliche Institution beherbergt, um Druck auf den Staat auszuüben. Im Gegensatz zu einem echten Aufstand, der unmittelbaren, spontanen und gewaltsamen Revolte, ist die Manif-insurrection jedoch wie alle Demos symbolischer Natur. Auf einen bestimmten Ort und Zeitpunkt vorher festgelegt, zeigt sie ihre numerische Stärke, um gerade keine physische Gewalt anwenden zu müssen.

Richtet sich diese Form der Demo gegen den Staat als Gegner, so scheint die „Manifestation-procession„ ihn zu ignorieren. Mit diesem Begriff bezeichnet die Autorin Demos, die vor allem die Gruppenidentität stärken und das Bild der Gruppe nach außen prägen wollen. Indem sie sich selbst, ihre eigenen Symbole und „heiligen Orte„ feiern, setzen sich aber gerade diese Demonstrationen in Gegensatz zu den staatlich sanktionierten Feiern nationaler Einheit und der damit verbundenen Deutung von Geschichte. Für die „manifestations-pétitions„ wiederum ist der Staat der Adressat, an den sie ihre Forderungen richten. Eine französische Besonderheit schließlich ist die Demonstration in der Form der „Levée en masse„, zu der in Krisenzeiten der Staat selbst, oder, wenn die Regierung ohnmächtig scheint, die selbsternannten Verteidiger der Republik aufrufen.

Mit Hilfe dieser vier Typen kann Tartakowsky die Rolle der Demonstration in der französischen Geschichte seit dem Ersten Weltkrieg nachzeichnen. Es wird deutlich, dass die Demo als kollektiver Ausdruck von Meinungen und Forderungen nicht nur eine notwendige Ergänzung des in Frankreich ganz individualistisch konzipierten Wahl- und Streikrechtes war, sondern auch ein Reflex auf bestimmte Schwächen des politisches Systems, auf die die Autorin allerdings nicht eingeht. Wohl weist sie nach, dass sich überwiegend gut organisierte, durchsetzungsfähige Gruppen der Demo bedienten, um ihren Willen zu manifestieren. Sie fragt aber nicht, wieweit die Ursachen für dieses Phänomen im Zusammenspiel einer zersplitterten Parteienlandschaft mit einem absoluten Mehrheitswahlrecht zu suchen sind. Nicht die politikwissenschaftliche Analyse der Funktion der Demonstration im Parlamentarismus der Dritten und Vierten und in der Präsidialdemokratie der Fünften Republik interessiert sie, sondern ihre konkrete historische Bedeutung für jeden einzelnen Zeitpunkt der Geschichte seit 1919.

Ihr Buch ist deshalb streng chronologisch aufgebaut, wobei die Abfolge der Demonstrationen den roten Faden der Erzählung liefert. Die dichte, ausführliche Beschreibung der jeweils wichtigsten Demos liefert eine Fülle von Informationen zu den politischen Kräfteverhältnissen, zur Politik der Regierung gegenüber den Gewerkschaften, den Parteien von links oder rechts, zum Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Staat. Darüber hinaus werden abstrakte Konzepte wie Identität, Selbstverständnis des Staates, öffentliche Meinung und politisches Klima hier konkret und greifbar. Die deskriptive Schreibweise macht den Text zu einer Fundgrube für Forscher. Wer jedoch im politischen Alltag der jeweiligen Jahre nicht völlig zu Hause ist, die Redakteure der Humanité nicht sämtlich mit Namen kennt oder seinen Maitron nicht griffbereit stehen hat, wird Orientierungshilfen, Anmerkungen zu handelnden Personen, ein Register, vor allem aber einleitende und zusammenfassende Texte sehr vermissen. Jedes Kapitel führt den Leser ohne Überleitung direkt auf die Straße, mitten zwischen die Demonstranten, während die politische Situation, aber auch dazu existierende Literatur als bekannt voraus gesetzt wird. So verweisen von 234 Fußnoten des achten Kapitels nur fünf auf Sekundärliteratur, im sechsten Kapitel kommt die Autorin, eine der besten Kennerinnen der Geschichte der Kommunistischen Partei Frankreichs, gänzlich ohne Literaturangaben aus. So sehr dieses Verfahren die Originalität des Buches betont, so sehr leidet darunter die Auseinandersetzung mit der Forschung. Viele Beobachtungen werden nicht ausgewertet, Ergebnisse nur en passant mitgeteilt.

Umso wertvoller sind die beiden Querschnittkapitel, die den Fluss der Chronologie unterbrechen. Sie bieten Raum für quantifizierende Analysen, die häufig das Bild zurechtrücken, das die Beschreibung der einzelnen Demonstrationen in den vorangegangenen Kapiteln gezeichnet hat. So weist Tartakowsky nach, dass 1919 bis 1934 Demonstrationen einzelner Berufsgruppen zahlreicher waren als solche, deren Teilnehmer eine politische Meinung oder Identität verband. In der Zusammenfassung wird die Demonstration als Teil der Arbeiterkultur sichtbar, ihr Verhältnis zum Streik genauer bestimmt. Zu dieser volkstümlichen Demonstrationskultur der Arbeiter tritt seit Mitte der 1920er Jahre die Demonstrationskultur einzelner Organisationen. Dabei zeigt Tartakowsky sehr genau, dass dem Aufruf zur Demonstration eine Erwartungshaltung entsprechen muss und die Straße deshalb nie ein frei verfügbares Instrument der Organisation ist. Sie schildert gerade die von der kommunistischen Partei organisierten Demonstrationen als spannende Begegnungen zwischen der Organisation und der „Masse„.

Während die Zahl und Vielfalt der demonstrierenden Organisationen wuchs, wurden auch immer mehr Regionen und Städte vom Phänomen der Demonstration erfasst. Von der „Nationalisierung„ der Demonstration spricht Tartakowsky jedoch erst, als republikweite Aktionstage die vielen verschiedenen „cultures d’organisations„ zu einer neuen politischen Massenkultur verschmelzen, die für die Volksfront konstitutiv wird. Diese neue politische Demonstration ist nicht mehr symbolisches, sondern politisches Handeln, durch das sich die Demonstranten in der Krise der 30er Jahre selbst an die Stelle der Staatsgewalt setzen. Sowohl die gaullistischen als auch die kommunistischen Demonstrationen der 1940er Jahre greifen auf diese Form der politischen Demonstration zurück. Auch in der Algerienkrise wird angesichts der Handlungsunfähigkeit der Parteien die Demonstration noch einmal zu dem zentralen Mittel politischen Ausdrucks. Nach 1962 aber dominieren, wie schon 1953 bis 58, wieder Demonstrationen einzelner Berufsgruppen, die jetzt, anders als in der Zwischenkriegszeit, vorwiegend von Nicht-Lohnempfängern genutzt werden, die am allgemeinen wirtschaftlichen Wachstum nicht partizipieren. Tartakowskys Beschreibung und Analyse der großen Bauern- und Winzerproteste, die diese Jahre prägen, gehören zu den gelungensten Seiten des Buches. Mit den Straßensperren erfinden die Bauern erstmals eine Aktionsform, die nicht die Demonstrierenden mobilisiert, sondern die Nicht-Demonstrierenden immobilisiert, und so, wie der Streik, alle Räder still stehen lässt. Im Unterschied aber zu den Barrikaden der Arbeiter geht es nicht darum, das eigene Terrain nach außen zu verteidigen. Tartakowsky erklärt vielmehr die Gewaltbereitschaft der Bauern gerade dadurch, dass sie in der Stadt, auf fremdem, als feindlich empfundenen Gebiet demonstrieren, während z.B. Bergarbeiter, die einen Marsch nach Paris organisieren, auf die Solidarität der städtischen Bevölkerung rechnen dürfen. Entscheidend ist nicht die Branche, sondern das Verhältnis zum Raum, und damit zugleich zur Vergangenheit dieses Raumes.

Jede Demonstration verweist nämlich auf die vorangegangenen, die am gleichen Ort, zur gleichen Zeit stattgefunden haben und ihr so Bedeutung, Symbolkraft und Sinn geben. Die Demonstration ist Teil des Gedächtnisses der Nation, der Weg, auf dem die Geschichte in die Politik einfließt. Jede, auch die unbedeutendste und folgenloseste Demonstration ist Teil einer Kette, fühlt sich als Inkarnation des „peuple en marche„, als Volksbewegung im wörtlichen Sinne. Wenn 300.000 Menschen am 30.5.1968 die Champs Elysée hinabmarschieren, um die Fünfte Republik und de Gaulle sichtbar zu unterstützen, so antworten sie damit auf die Demonstrationen der Studenten und streikenden Arbeiter, sie besetzen bewusst jene Achse, die die staatliche Macht und Ordnung symbolisiert, sie nehmen Bezug auf de Gaulles Triumphzug über die Champs Elysée 1944 und wecken zugleich die Erinnerung an den 12.2.1934, als die Verteidiger der Dritten Republik in Form einer „levée en masse„ zur bis dahin größten Demonstrationsbewegung in der französischen Geschichte mobilisierten, um ihrerseits auf die gewalttätige Manif-insurrection des 6. Februar zu reagieren.

Diese beiden Jahre, 1934 und 1968, arbeitet Tartakowsky als die beiden großen Wendepunkte in der Geschichte der Demonstrationen heraus, deren Bezug zur politischen Geschichte eben darin sichtbar wird, dass sie einer gemeinsamen, für alle Demos gültigen Chronologie gehorchen. Diese deckt sich nicht mit den großen Streikwellen, auch nicht mit den Wahlperioden oder mit Krise und Untergang politischer Regime. Die nach Zahl und geographischer Ausdehnung bedeutendsten Demonstrationsbewegungen markierten vielmehr die Krise einer lange Zeit dominierenden politischen Kultur. Tartakowsky sieht Parallelen zwischen 1934 und 1968: die technokratische Regierung, die Infragestellung der Intellektuellen und der Parteien. Vergleichbar ist aber vor allem die Rolle der Demonstrationen. Sie lösen die politische Krise aus, lösen sie aber auch und werden selbst zum Instrument der Regulierung. Indem sich alle Beteiligten der Demonstration als Mittel bedienen, signalisieren sie zugleich, dass sie die Lösung innerhalb des vorgegebenen politischen Rahmens suchen wollen. Die Unruhen in der Banlieu der französischen Großstädte liefern Tartakowsky dazu den Beweis a contrario: Die jugendlichen Nachfahren der Einwanderer bedienen sich der Demonstration eben nicht, weil sie diese politische Kultur, den Mythos des „peuple en marche„ nicht kennen und an ihr nicht teilhaben.

Sabine Rudischhauser, Shanghai



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