Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, Ausstellungskatalog Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum, Verlag Köhler & Amklag, München/Berlin 1995, 184 S., geb., 68 DM.

Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich zunehmend mit Wahrnehmungs- und Deutungsmustern, bei deren Herstellung und Vermittlung visuelle Vorstellungen offenkundig eine wesentliche Rolle spielen. Die sich historisch wandelnden Kategorien der vorsprachlichen Wahrnehmung können nur begrenzt über geschriebene Wahrnehmungsanleitungen wie Reiseführer oder Benimmbücher erschlossen werden. Die visuelle Vorstellung hat eigene, der Sprache gegenüber autonome Normen. Um diesen auf die Spur zu kommen, muss die Geschichtswissenschaft aber erst noch lernen, mit Bildquellen, für das 20. Jahrhundert vor allem mit der Massenquelle Fotografie, umzugehen. Fotografien werden bislang meist zur bloßen Illustration genutzt, selten aber als historische Quelle interpretiert. Nachdem die Oral History mündliche Quellen entdeckt hat, müsste die Geschichtswissenschaft nun Methoden und Theorien der Bildquelleninterpretation entwickeln.

Eine so entstehende Visual History könnte von werbepsychologischen, inhaltsanalytischen, semiotischen und ikonologischen Ansätzen profitieren. Seit einigen Jahren gibt es in den Zeitschriften Fotogeschichte und Annals of Tourism Research interessante Arbeiten zu Kontextbezogenheit und Gebrauchsweise der Fotografie. Eine allseits akzeptierte Methode der Quellenkritik konnte sich aber noch nicht durchsetzen. Dieser unbefriedigende Befund wirkt noch misslicher, blickt man nicht auf professionelle Presse- oder Kunst-Fotografie, sondern auf die wegen ihrer vermeintlich geringen Qualität noch stärker vernachlässigten 'Knipser'-Bilder.

Unter dem prägnanten Titel „Knipser" legte Timm Starl 1995 die „Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980" vor. Der reichhaltig illustrierte Katalog zu einer Ausstellung des Fotomuseums im Münchner Stadtmuseum ist das Ergebnis einer intensiven Quellensammlung, -erschließung und -interpretation. Dank dieser Arbeit steht nun im Münchner Fotomuseum die größte Sammlung von Knipseralben als Fundgrube für vielfältige weitere Fragestellungen zur Verfügung. Timm Starl hat auch einen Inventarisierungsbogen für Fotoalben entwickelt und im Rundbrief Fotografie vorgestellt, denn noch führen Fotoalben in musealen und archivischen Sammlungen meist ein uninventarisiertes Schattendasein.

Hier hat Timm Starl eine Grundlage für hoffentlich zahlreiche weitere Forschungen geschaffen. Der Katalog ist ein ausgezeichneter Einstieg in den Umgang mit einer aussagekräftigen, bisher von der Sozial- und Alltagsgeschichte viel zu wenig beachteten Quelle. Darüber hinaus bietet der hervorragend gestaltete Band eine anregende, manchmal freilich irritierende Unterhaltung. Vor allem aber lebt er von seinen Bildern, in denen sich die ganze Vielfalt der Knipserfotografie spiegelt: Gartenidylle, Strandburgen, Leichenberge, ein nackter Hermann Hesse.

Starls Quellenbasis ist anonymes Material – Bilder und Alben aus Nachlässen oder vom Flohmarkt. Ohne Interviews muss dabei das nötige Kontextwissen des Albenbesitzers erst erschlossen werden. Oft genug bricht nur eine mühsame Detektivarbeit „das Schweigen, das von Fotoalben so dröhnend ausgeht, wenn kein Familienwissen sie mehr kommentieren kann" (Rutschky).

Am Beginn des Katalogs steht eine Begriffsbestimmung des ‚Knipsers‘ in Abgrenzung sowohl zu den professionellen Fotografen als auch zu den ambitionierten Fotoamateuren. Statt der bisher üblichen ästhetischen und damit stereotyp-abfälligen Unterscheidung fragt Starl nach den spezifischen Funktionen des Knipsens. Zentral ist für ihn die Kategorie des Privaten. Die wichtigste Funktion privater Fotografie ist die Erinnerung; den Knipsern kommt es nicht auf ästhetische oder dokumentarische Ergebnisse an, sondern darauf, für sich selbst „bildliche Erinnerungen herzustellen" (S. 20). Sie wollen „ihr Leben als visuelle Geschichte entwerfen" (S. 10).

Die innere Ordnung der Alben, so wäre methodisch zu ergänzen, gibt die Auswahl und Zusammenstellung der Urheber wieder. Damit ist sie der eigenständigen Erzählstruktur der Befragten in narrativen Interviews vergleichbar.

Neben dieser individuell-biographischen Seite – ein Fotoalbum „entspricht einem lebensgeschichtlichen Entwurf" (S. 23) – hat das Fotografieren und das darauf folgende Sortieren, Einkleben und Vorführen eine kommunikative, manchmal gerade zu die Familie konstituierende Funktion.

Nach dieser Einführung und Definition folgt eine chronologische Folge von Kapiteln, die sich jeweils einem thematischen Schwerpunkt widmen. Starl beleuchtet die Entstehung der Amateurfotografie im Kontext der bürgerlich-privaten Welt des 19. Jahrhunderts, die zur Jahrhundertwende zunehmenden Distinktionsbemühungen der anspruchsvollen Kunst- und Amateurfotografen von den verachteten Knipsern sowie die Großstadt-Faszination und -Abneigung, die sich in den schon früh dominierenden Reisefotografien spiegelt.

Zwischen den Polen „Schock" und „Idylle" schwankt die Darstellung des Ersten Weltkrieges, der als eine besondere Phase im Leben auch in den Fotoalben herausgehoben wird. Die Bilder dienen als Lebenszeichen; sie sind Siegestrophäen und Versuche, den allgegenwärtigen Tod zu bannen.

Starl geht den neuen Sichtweisen der 1920er Jahre, der Technikfaszination nach; er fragt nach geschlechtsspezifischen Unterschieden, allerdings ohne welche zu finden. Mir scheint häufig eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vorzuliegen: Die ‚technischen‘ Männer fotografieren, die ‚kreativen‘ Frauen gestalten die Fotoalben, womit sie die familiale Integration dokumentieren und immer wieder neu herstellen: "Die Frauen hüten das Feuer und die Fotoalben" (Rutschky).

Detailreiche Exkurse analysieren die „Kodak-Legende" von der Erfindung der Knipserfotografie durch die billige Kodak-Kamera und die durch den Preisverfall ab etwa 1930 rasch zunehmende Verbreitung der Knipserfotografie. In einem weiteren Exkurs stellt Starl der vielzitierten Befragung Bourdieus zur Gebrauchsweise der Fotografie seine quantitative Inhaltsanalyse der untersuchten Fotoalben gegenüber. Dieser in der Fotogeschichte ausführlicher dargelegte Ansatz ist vor allem methodisch interessant und wäre unter verschiedenen Fragestellungen weiter zu testen.

Die NS-Zeit stellt in den privaten Alben zunächst keine Zäsur dar. Gegenüber der oft behaupteten nationalsozialistischen Gleichschaltung der Bilder verweist Starl auf die „Erfolglosigkeit des Unterfangens, in die private Bildwelt eindringen und sie verändern zu wollen" (S. 103). Das hat wenig mit Widerstand zu tun, mehr mit der begrenzten Relevanz der Politik für die Biographie. Ein mit „Judenzug" beschriebenes Bild eines Güterzuges, kommentarlos in die Reihe der Urlaubsbilder eingefügt, lässt freilich Raum für Interpretationen. Stärker wird die Parteinahme für das Regime jedenfalls im Krieg: Je weniger Privatsphäre ihm übrigbleibt, desto mehr drückt etwa der knipsende Landser den offiziellen Rassismus auch in seinen Knipserbildern aus.

Im ‚Wirtschaftswunder‘ dominieren Bilder des neuen Autos oder Fernsehers, vor allem aber Urlaubsfotos. Diese Reisebilder hält auch Starl bei aller Verteidigung des Knipsers und seines Individualismus für besonders normiert und von der standardisierten Tourismuswerbung mit ihren Stereotypen und ethnischen Klischees vorgeprägt. Aber gerade die im Katalog abgebildeten Urlaubsalben der Nachkriegszeit sind mit kreativen Collagen, Zeichnungen und Beschriftungen individueller gestaltet als ihre Vorläufer der Vorkriegszeit.

Doch mag die Zeit der Fotoalben ohnehin vorbei sein – Dias, Videos und CDs haben die Nachfolge angetreten. Schon seit den siebziger Jahren werden private Fotos immer häufiger ungeordnet in Schuhkartons, Zigarrenschachteln oder den Papiertüten der Fotogeschäfte aufgehoben. So resümiert Starl noch einmal skeptischer den Erinnerungswert von Knipserbildern: Je nachlässiger die immer massenhafter gemachten Bilder behandelt werden, desto mehr werden sie zu einem „Archiv des Vergessens" (S. 157). Aber schon 1910 schrieb der Reiseschriftsteller Otto Julius Bierbaum: „Man vergißt so viel, wenn man fotografiert" (S. 149).

Cord Pagenstecher, Berlin



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