Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

John Komlos/Scott Eddie (Hrsg.), Selected Cliometric Studies on German Economic History, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1997, 369 S., kart., 124 DM.

"Globalisierung" ist das erste Stichwort, das bei der Betrachtung dieses Bandes einfällt: Ein Sammelband von Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte - oft im internationalen Vergleich -, die von US-amerikanischen, niederländischen, kanadischen, israelischen, englischen und deutschen Forschern verfasst wurden und von einem deutschen Verlag in englischer Sprache auf dem Markt plaziert wurde... Man mag die Idee einer globalisierten Wirtschaftsgeschichte lieben oder nicht, der vorliegende Band eröffnet die Möglichkeit, ihre Vor- und Nachteile intensiv zu studieren. Gerade auch für den Einsatz in der Lehre bietet der Band eine willkommene Zusammenstellung von zwanzig Artikeln, die teilweise in Zeitschriften erschienen sind, die nur wenige deutsche Bibliotheken führen. Selbstredend kann bei einer solch großen Zahl von Artikel eine Rezension keine Vollständigkeit erreichen.

Der Band besteht aus "kliometrischen" Studien, die Instrumente der ökonomischen Theorie und insbesondere solche der Statistik benutzen. Diese Methodik ist in Deutschland weitaus weniger gebräuchlich als im angelsächsischen Raum - daher stellen sich drei einleitende Beiträge die Frage, warum die Wirtschaftsgeschichtsschreibung unterschiedliche nationale Pfade beschritt. Neben der stärkeren Einbindung der „economic history" in die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der US-amerikanischen Universitäten nennen Richard Tilly und die Herausgeber Faktoren wie den höheren Aufwand für deutsche Historiker, Statistikkenntnisse zu erwerben, das Fehlen einer "kritischen Masse" von deutscher Kliometrie oder auch das inhaltliche Argument, dass deutsche Märkte in der Geschichte weniger wettbewerbsorientiert strukturiert und daher seltener neoklassisch interpretierbar waren als etwa die amerikanischen Märkte. Neben der Wirtschaftsgeschichte thematisiert der Band aber auch wichtige Aspekte der Sozialgeschichte, etwa das Protestwahlverhalten in der Weimarer Republik (van Riel/Schram) oder die Modernisierung der agrarischen Gesellschaft (Webb).

Die Mehrzahl der Artikel beschäftigt sich mit den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Michael Gavin beginnt mit der Frage, was für einen Effekt die französische Transferzahlung von fünf Millionen Francs nach dem 1870/71er Krieg auf die Volkswirtschaften beider Länder hatte. Er wird dabei angeregt von der heutigen Debatte, welche Wirkung ein Schuldenerlass - auch eine Form des Nettotransfers - auf weniger entwickelte Länder und deren Gläubiger hat. Gavin findet durch eine geschickte Kombination von kontrafaktischer Fragestellung mit einer empirischen Analyse heraus, dass die Franzosen zwar wie erwartet ihren Konsum einschränkten, aber entgegen der ökonomischen Theorie ihre Sparquote gleichfalls anhoben, so dass beispielsweise die französischen Auslandsguthaben nach etwa einem Jahrzehnt wieder im langfristigen Wachstumstrend lagen.

Das rasche Aufholen der deutschen Volkswirtschaft gegenüber dem britischen Vorreiter während der untersuchten Epoche fasziniert die Wirtschaftshistoriker. Steve Webb analysiert vor diesem Hintergrund in drei Artikeln die Wirkung von Kartellen und Schutzzöllen, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass ihre Auswirkung auf die deutsche Wirtschaft eher positiv war: Kartelle und Schutzzölle erhöhten nach Webb die Produktivität in der Schwerindustrie (durch die Verminderung des Risikos kapitalintensiver Produktionsweisen), sie milderten die konjunkturellen Ausschläge und förderten sogar die Modernisierung der ländlichen Gesellschaft. Dies sind Thesen, die die Diskussion anregen dürften - und es ist gerade die offene, kontroverse Auseinandersetzung, die viel zum Erfolg der kliometrischen Geschichte beigetragen hat.

Ein Höhepunkt der statistischen Analyse sind sicherlich die beiden Beiträge von John Brown, der sich mit dem Einfluss von unvollkommenen Märkten auf die Integrationstendenzen der Textilwirtschaft und mit der Einführung von kommunalen Wasserversorgungseinrichtungen im Rheinland beschäftigt. Hintergrundinformationen zu Browns erstem Beitrag (u.a. Tabellen) stehen im Internet unter www.vwl.uni-muenchen.de/ls_komlos/info.zip. Vier Beiträge von Lon L. Peters, Scott M. Eddie, Richard Tilly sowie Rainer Fremdling und Günter Knieps decken weitere wichtige Bereiche der Vorkriegswirtschaft ab: Die Kohlenförderung, Landwirtschaft, Banken und Eisenbahnen. Fremdling und Knieps weisen auf die Nachteile der Kombination von staatlichem Eisenbahnnetzbesitz und staatlichem Bahnbetrieb hin. Eine Privatisierung des Bahnbetriebes hätte bereits vor dem Ersten Weltkrieg spürbare Effizienzgewinne im Transportwesen erbracht - eine hochaktuelle Fragestellung, wie man an der heutigen Privatisierungsdebatte sieht.

Fünf Artikel befassen sich mit der Zwischenkriegszeit. Stephen Broadberry und Albrecht Ritschl leisten einen Beitrag zur intensiv diskutierten "Borchardt-These", der zufolge die Löhne in der Weimarer Zeit im Verhältnis zur Produktivität zu hoch gewesen seien. Broadberry und Ritschl bestätigen diese These, weisen jedoch darauf hin, dass Deutschland in dieser Beziehung in Europa nicht allein stand, sondern beispielsweise Großbritannien eine ähnliche Entwicklung aufwies. Ausgesprochen innovativ sind auch die Forschungen zur politischen Ökonomie der Weimarer Wähler von van Riel und Schram, die zahlreiche ökonomische Variablen mit der Wählerzustimmung zur jeweiligen Regierung in Beziehung setzen. Raymond L. Cohn und Adam Klug vervollständigen die kliometrische Untersuchung der Zwischenkriegszeit durch finanzökonomische Analysen der Fiskalpolitik und der Auslandsverschuldung, während Philip Friedman Licht in das Dunkel der deutsch-ungarischen Handelsbeziehungen zwischen 1933 und 1938 bringt.

Eine zweite Erfolgsstory der deutschen Wirtschaftsgeschichte (neben der Kaiserzeit) ist die Nachkriegszeit. Rolf Dumke entwirft ein Modell, dass die Rekonstruktionsthese mit den Forschungen, die auf die Konvergenzstudien von Abramovitz zurückgehen, synthetisiert. Die Rekonstruktionsthese erklärt die enormen Wachstumsraten der 1950er und 1960er Jahre über ein kriegsbedingt "zurückgestautes" Wachstum, während die Konvergenztheorie von einem natürlichen Aufholprozess zum Land mit der höchsten Produktivität ausgeht. Nach Dumke können diese beiden Faktoren die hohen Wachstumsraten nach dem Kriege weitgehend erklären, ein Wirtschaftswunder (im Sinne eines schwer erklärlichen Phänomens) fand nicht statt! Eine weitere mögliche Ursache des Nachkriegswachstums, den Koreakrieg, unterzieht Peter Temin einer genauen Untersuchung. Er hält diesen Faktor für unmaßgeblich im Hinblick auf das deutsche Wirtschaftswachstum, weil nach dem Kriegsausbruch weder die US-amerikanischen Importe noch die deutschen Exporte außergewöhnlich anstiegen. Stattdessen erlitt Deutschland durch gestiegene Importpreise sogar eine Zahlungsbilanzkrise. Temin zieht interessante Vergleiche zwischen der Transformation des deutschen Wirtschaftssystems nach dem Kriege und den Erfahrungen heutiger Transformationsländer.

Kritisch wäre zu dem vorliegenden Band anzumerken, dass gerade die Rezeption durch Historiker erleichtert worden wäre, wenn dem Faible der Ökonomen für Abkürzungen Grenzen gesetzt worden wären - zumal die Probleme mit der Statistik und mathematischen Ökonomie als Gründe für die schwierige Verständigung der unterschiedlichen Wissenschaftsstile in den einleitenden Beiträgen angesprochen werden. Abkürzungen wie AGLABSH602, GENRESID und F(9,86) werden zwar alle irgendwo erklärt, aber eine direkte Auflösung hätte kaum mehr Platz gekostet.

Auf der anderen Seite ist der klare, problemorientierte Schreibstil aller Beiträge zu loben. Es finden sich keine langen Einleitungen oder Datenpräsentationen l'art pour l'art, sondern es werden präzise, relevante Fragestellungen auf der Basis von aussagekräftigen empirischen Daten untersucht. Aufgrund dieser Qualitäten steht zu hoffen, dass der Band häufig Eingang in die Literaturlisten und Seminare zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte finden wird.

Jörg Baten, München



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