Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bartelsheim, Ursula, Bürgersinn und Parteiinteresse. Kommunalpolitik in Frankfurt am Main 1848-1914, Frankfurt 1997, Campus Verlag

Die historische Forschung zum 19. Jahrhundert blickt seit einigen Jahren mit besonderem Interesse auf die Städte und auf die Kommunalpolitik. Sowohl durch die Bürgertumsforschung als auch durch Fragen zur Entstehung moderner politischer Partizipationsformen angeregt, wird Lokalpolitik auf eine neue Art und Weise zum Gegenstand historischer Arbeiten. Im 19. Jahrhundert vollzog sich in Deutschland ein grundlegender Transformationsprozess. Einerseits wurden individuelle Handlungsmöglichkeiten durch die Entgrenzung des Einzelnen aus den ständisch-korporativen Bindungen der alteuropäischen Welt freigesetzt. Andrerseits, und das wurde vom liberalen Fortschrittsoptimismus der Zeit oft vergessen, lange auch kritisiert, entstanden neuartige soziale und politische Handlungseinheiten. Denn mit dem Individuum allein waren kein Staat und keine Politik zu machen. Das trifft gleichermaßen für das politische Handeln in den Kommunen zu. Der Prozess der sich ausdifferenzierenden kommunalen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert lässt sich auch als fragiles Gleichgewicht zwischen den neuen Organen der lokalen Selbstverwaltung, dem politischen Agieren des potenziell freien bürgerlichen Individuums, und den sich zugleich konstituierenden neuen sozialen Interessenlagen beschreiben.

Ursula Bartelsheim untersucht für Frankfurt am Main die Kommunalpolitik von 1848 bis 1914 zwischen einer vielfach noch ehrenamtlichen Verwaltung, dem Leitbild des allein auf das Gemeinwohl orientierten Indiviuums und den sich herausbildenden lokalen Interessengruppen. In Anlehnung an Max Weber beschreibt sie Lokalpolitik als "Interessenkampf", ohne den von den Zeitgenossen zugleich erhobenen Anspruch auf Gemeinwohlorientierung nur als Ideologie entlarven zu wollen. Bürgerliche Selbstverwaltung wird dadurch in einem selbstgeschaffenen Spannungsfeld von Artikulation spezifischer Interessen und Verpflichtung auf allgemeine Ziele erkennbar.

Frankfurt, lange Zeit eine liberale und demokratische Hochburg, nicht zuletzt dank seiner großen jüdischen Gemeinde, konnte auch nach der preußischen Okkupation 1866 zentrale Elemente seiner Selbstverwaltung bewahren. In vier zeitlichen Schnitten und Kapiteln (1848-66, 1866-80, 1880-90, 1890-1914) untersucht die Verfasserin jeweils die Veränderungen in der städtischen Verfassung, die Formierung von Interessengruppen und Parteien, zentrale Themen der Stadtpolitik sowie die einflussreiche Stellung der Oberbürgermeister.

Zwar bleibt manches zu sehr im Lokalen und im Rahmen des nur auf Frankfurt bezogenen Blickes der Verfasserin begrenzt. Von ihren Ergebnissen ist aber zweierlei besonders hervorzuheben:

1. Das "Gemeinwohl", eine fast schon mythische Kategorie der bürgerlichen Kreise des 19. Jahrhunderts, wurde nicht als Resultat einer Abwägung von konkurrierenden Standpunkten, als Ergebnis von konkurrierenden Anschauungen verstanden, sondern als gleichsam vorgegebene Größe. Darin dürfte eine der Ursachen liegen, dass die Kommunalpolitik noch Jahrzehnte, nachdem sich bereits Parteien und Interessenvertretungen im Lokalen formiert hatten, innerhalb bürgerlicher Kreise ihre integrierende Kraft bewahren konnte. Das "Gemeinwohl" war mehr als nur bürgerliche Ideologie oder nur die Summe bürgerlicher Interessen - es war vielmehr eine "regulative Idee", die im Sinne Max Webers als ein Weichensteller für politisches Handeln und kulturelle Normen wirkte.

2. Die Zunahme der Verwaltungsaufgaben wie die Ausdifferenzierung der städtischen Gesellschaft führten mit dazu, dass sich immer mehr gesonderte Interessenvertretungen formierten und Einfluss auf die Stadtpolitik auszuüben versuchten. Zwar versuchte die Stadtpolitik nach wie vor, am Gemeinwohl festzuhalten. Doch nahm die Heterogenität der Interessen schneller zu als neue Gemeinsamkeiten für das Gemeinwohl hergestellt werden konnten. In dieser Hinsicht erscheint die Frankfurter Lokalpolitik als ein Musterbeispiel dafür, dass sich die Bedingungen für politisches Handeln innerhalb einer Stadt in einem Prozess permanenter Änderung befanden. "Bürgersinn" und "Parteiinteresse" erscheinen damit als zwei Prinzipien, die nicht im Gegensatz standen, sondern für eine bestimmte Zeit - grob klassifiziert: zwischen 1848 und der Etablierung klarer parteipolitischer Organisationsstrukturen am Ende des Kaiserreichs - in einem funktionierenden Nebeneinander bestanden.

Fraglich erscheint es jedoch, ob die zu Recht konstatierte Politisierung nur als Folge der Revolution von 1848 zu erklären ist. Denn umgekehrt war die Politisierung der Gesellschaft ja auch eine Vorbedingung für die Revolution. Vielleicht böte es sich an, Tocquevilles Frage nach einer Erklärung für die Revolution - den Funktionsverlust des Ancien Régime und seiner politischen Institutionen - auf die deutsche Kommunalpolitik des 19. Jahrhunderts zu übertragen. Mehr als bisher erschiene die Lokalpolitik in Deutschland dann als Bühne eines permanenten Lernprozesses, auf welcher für eine geraume Zeit parallel zu den sozialen Veränderungen der Gesellschaft eine Adaptation und Erfindung neuer politischer Handlungsformen stattfand. Im Vergleich hierzu erwiesen sich die staatlichen Institutionen des Kaiserreichs als weitaus weniger lernwillig und reformfähig. Arbeiten wie die der Verfasserin können dazu anregen, auf neue Weise über Kommunalpolitik als institutionellen Lernprozess einer entstehenden Zivilgesellschaft nachzudenken.

Manfred Hettling, Bielefeld



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