Archiv für Sozialgeschichte
Rezension
August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften (bearbeitet von Anneliese Beske u. a.), Verlag K.G. Saur, München etc. 1995-1997, geb.
August und Julie Bebel, Briefe einer Ehe, hrsg. von Ursula Herrmann, Verlag J.H.W. Dietz/Nachf., Bonn 1997, 659 S., geb., 48 DM.
Ein Editionswerk, das den politischen Umbruch und die Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft des letzten Jahrzehnts erfolgreich überstanden hat, liegt nun in einer Ausgabe des Saur-Verlags vor. Fast drei Jahrzehnte sind vergangen seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Ausgewählten Reden und Schriften", im Jahr 1970 herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und dem Zentralinstitut für Geschichte bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, bis zum Abschluss der Edition im Jahr 1997. Der schleppende Gang der Edition in der DDR sowie das Fehlen einer entsprechenden Ausgabe von Bebels Werken in der alten Bundesrepublik zeigen (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), dass die Auseinandersetzung mit August Bebel in beiden deutschen Staaten nicht als wichtige Aufgabe angesehen wurde. Dies ist erstaunlich, bedenkt man den großen Einfluss, den Bebel rund vier Jahrzehnte lang auf die deutsche Sozialdemokratie ausgeübt hat. Vieles, was heute als Charakteristikum der deutschen Arbeiterbewegung angesehen wird, ist eng mit seiner Person verbunden. Bebel war eine Identifikationsfigur - nicht nur für Arbeiter seiner Zeit, auch für sozialdemokratische Politiker der Bundesrepublik stand sein Name für einen Mythos, den es im kollektiven Gedächtnis zu bewahren galt. Für die weisungsgebundene Forschung in der DDR war der Umgang mit Bebel schwierig, weil er als einer der Gründerväter der deutschen Arbeiterbewegung unverzichtbar, als historische Persönlichkeit für die DDR-Geschichtsschreibung aber durchaus problematisch war. Um so erstaunlicher ist es, dass auch in der Bundesrepublik - selbst in Zeiten als die Geschichte der Arbeiterbewegung zu den bevorzugten Forschungsgebieten zählte - dem publizistischen Werk und der Biographie einer zentralen Figur der deutschen Sozialdemokratie vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hier hat die vorliegende Edition in hervorragender Weise Abhilfe geschaffen und wichtige Quellen für die Erforschung, Diskussion und Bewertung historischer Prozesse verfügbar gemacht.
Wie schwierig zu verwirklichen ein wissenschaftliches Großprojekts zur Geschichte der Arbeiterbewegung gerade in den Neunzigerjahren war, das lässt die knappe Einführung des dritten Bandes, mit dem der Saur-Verlag die Ausgabe übernahm, erahnen. Aber bereits vor 1989 hatten die Herausgeber mit Schwierigkeiten zu kämpfen, wie Anneliese Beske in der "Editorischen Vorbemerkung" zu Band 3 mitteilt. Selbst die Nutzung der Bebel-Bestände im Zentralen Parteiarchiv war mit Erschwernissen verbunden (Bd. 3, S. 4*). Drei im Manuskript fertiggestellte Bände (Bd. 3 bis 5), die von dem inzwischen verstorbenen Gustav Seeber herausgegeben worden waren, lagen bereits 1989 vor, ohne dass die Drucklegung erfolgen konnte. Sie erschienen erst im Rahmen der vorliegenden Ausgabe. Die Bände 7 bis 10 hat das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam herausgegeben. Von den zahlreichen Mitarbeitern, die im Lauf der Jahrzehnte mitwirkten, sind insbesondere Anneliese Beske und Eckhard Müller zu nennen, deren Engagement es zu verdanken ist, dass die Bände in der vorliegenden Form erscheinen konnten.
Die neue Ausgabe umfasst als Reprint auch die in der DDR erschienenen Bände 1, 2/1, 2/2 und 6 - allerdings ohne die ursprünglichen Einleitungen und Literaturempfehlungen. Damit sind die damals zugrunde gelegten Auswahlkriterien erhalten geblieben und der Leser muss für den Zeitraum vor 1890 auf manches verzichten, das unter veränderter Perspektive heute möglicherweise aufgenommen worden wäre. So wurde etwa die unzureichende Dokumentation von Bebels Wirken insbesondere in der Arbeiterbewegung der 1860er Jahre nicht korrigiert. Das mag bedauerlich erscheinen, zumal sich auch die archivischen Zugangsmöglichkeiten inzwischen verbessert haben - im Hinblick auf die schwierigen Bedingungen bei der Fortführung der Edition mussten diese Nachteile wohl in Kauf genommen werden.
Unter den für die Bände 3, 4, 7/1, 7/2, 8/1 und 8/2 ausgewählten Reden Bebels stellen die Reichstagsreden die bedeutendste Gruppe dar. Sie sind auch heute noch eine eindrucksvolle Lektüre - nicht nur als Beispiel parlamentarischer Rhetorik. Sie vermitteln zugleich ein lebendiges Bild der politischen und gesellschaftlichen Realität im Kaiserreich. Ein weiteres Textkontingent stellen Bebels Parteitagsreden, die vollständig abgedruckt wurden. Ob die umfassende Wiedergabe dieser Texte, die vielleicht besser zusammen mit den bereits als Reprint vorliegenden Parteitagsprotokollen zu lesen sind, unbedingt erforderlich war, sei dahingestellt. Aufgenommen wurden ferner ausgewählte Presseartikel, Aufsätze, Rezensionen und Reden aus anderen Anlässen (insbesondere Bebels Äußerungen auf den internationalen Sozialistenkongressen). Die Kriterien für die Aufnahme der Beiträge werden nicht näher erläutert, doch hat der Leser die Möglichkeit, die Auswahl anhand einer Bibliographie (Bd. 5 und Bd. 9) mit mehr als 3400 Einträgen nachzuvollziehen. In der Bibliographie, auf der Grundlage von Ernst Schraeplers "Bebel-Bibliographie" von 1962 erstellt, sind allerdings die Beiträge Bebels in der Regional- und Auslandspresse nur unvollständig erfasst. Wer unter den jetzt publizierten Presseartikeln Entlegenes und oder bis jetzt wenig Bekanntes erwartete, wird enttäuscht sein. Die Auswahl der Artikel beschränkt sich nahezu auf Beiträge aus dem "Vorwärts", der "Neuen Zeit" und in der "Gleichheit".
Der dritte Band beginnt mit der Dokumentation von Bebels publizistischem Werk nach dem Ende des Sozialistengesetzes. In den Jahren der politischen Verfolgung unter dem Ausnahmegesetz war Bebel durch seinen hohen persönlichen Einsatz für die Partei, vor allem aber durch seine Fähigkeit zur politischen Situationsanalyse und zum strategischen Handeln zu einem der prominentesten Führer der Sozialdemokratie geworden. Als Vertreter einer Partei, die erfolgreich alle Unterdrückungsmaßnahmen überstanden hatte, fiel ihm in der deutschen Politik wie auch in der internationalen Arbeiterbewegung eine bedeutende Rolle zu. Der Band enthält u.a. die in Broschürenform vorliegenden Texte wie "Zukunftsstaat und Sozialdemokratie" (Nr. 16), "Nicht stehendes Heer sondern Volkswehr!" (Nr. 58), "Attentate und Sozialdemokratie" (Nr. 61). Weitere Reichstagsreden, etwa zu den Menschenrechtsverletzungen in den deutschen Kolonien (Nr. 23), zum Sitzenbleiben beim Kaiserhoch (Nr. 29), für die Einführung demokratischer Rechte in Elsass-Lothringen (Nr. 30), oder gegen die "Umsturzvorlage" (Nr. 33) verdeutlichen die Anlässe für Bebels Auftreten im Parlament. Aufgenommen wurde auch Bebels Rede über das Kaiserreich im Jubiläumsjahr 1895/96, die er zu einer glänzenden Abrechnung über den Umgang mit der Sozialdemokratie gestaltete (Nr. 38). Einer der wichtigsten Beiträge, Bebels Rede zum Antisemitismus auf dem Parteitag in Köln 1893, wird in der erweiterten Broschürenausgabe von 1906 aufgenommen (Nr. 20). Dass Bebels Analyse, nicht zuletzt aufgrund des vorwiegend ökonomischen Ansatzes, "Grenzen aufweist" (S. 10*), ist vom heutigen Stand unübersehbar. Bebels Prognose, der Antisemitismus, der sich "nur auf die niedrigsten Triebe und Instinkte einer rückständigen Gesellschaftsschicht" stützen könne (Bd. 3, S. 308), werde in Deutschland nie eine wirkliche Rolle spielen, stellte sich als Fehlurteil heraus, das er allerdings mit vielen anderen - auch jüdischen - Zeitgenossen teilte.
Im vierten Band sind von den Texten aus den Jahren 1896 bis 1899 besonders Bebels Beiträge zum Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches (Bd. 4, Nr. 45, Nr. 46) hervorzuheben, die durch den Abdruck eines Aufsatzes in der "Neuen Zeit" nach der Verabschiedung des Gesetzeswerkes ergänzt werden (Nr. 47). Mit dem lapidaren Satz: "In allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten sind beide Ehegatten gleichberechtigt" (Bd. 4, Nr. 46) forderte Bebel die gesetzliche Verankerung der Gleichstellung der Geschlechter, lange bevor dies in der deutschen Gesetzgebung Wirklichkeit wurde. Im Übrigen bietet der vierte Band einen Querschnitt durch viele Probleme, die für die Sozialdemokratie in den Neunzigerjahren relevant waren, wie die Frage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen (Nr. 53, Nr. 54), das Flottengesetz und die forcierte Aufrüstung des Deutschen Reiches mit ihren Folgen für die Arbeiterschaft. Ferner findet sich die Broschüre "Akademiker und Sozialismus" (Nr. 56) sowie "Attentate und Sozialdemokratie" (Nr. 61). Beschlossen wird der Band durch die Wiedergabe von Bebels Beiträgen auf dem Parteitag in Hannover zur "Bernstein-Debatte" (Nr. 65) - ein Thema, das in seiner weiteren Entwicklung auch die Grenzen von Bebels Urteilsvermögen und Aufnahmebereitschaft für neue Impulse zeigt.
Für den Zeitraum von November 1899 bis zu Bebels Tod im August 1913 wurden von den über 1350 bibliographierten Titeln 86 Dokumente aufgenommen. Neben Bebels optimistischem Resümee der gesellschaftlichen Entwicklung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Bd. 7/1, Nr. 9) ist Beiträgen zur Außen- und Militärpolitik sowie zur Thematisierung der Kriegsgefahr ein besonderes Gewicht eingeräumt (Bd. 7/1, Nr. 1, Nr. 14, Bd. 7/2, Nr. 40, Nr. 45, Bd. 8/2, Nr. 63). Unter den Texten befindet sich auch Bebels eindrucksvolle Rede anlässlich der Marokkofrage am 9. November 1911 (Bd. 8/2, Nr. 77), in der er sieben Jahre vor dem Ende des Kaiserreichs unter den Heiterkeitsrufen von rechts die Schrecken eines großen europäischen Krieges und den Zusammenbruch der alten Ordnung beschwor. Neben den Reden zur deutschen Kolonialpolitik (Bd. 7/2, Nr. 29, Nr. 37, Bd. 8/1, Nr. 53) ist Bebels Protest im Reichstag am 3. Mai 1906 gegen die massenhaften Ausweisungen russischer Staatsbürger durch die preußische Polizei und die dabei offen zutage tretende Ausländer- und Judenfeindlichkeit hervorzuheben (Bd. 8/1, Nr. 51). Mit einigen bemerkenswerten Beiträgen ist auch in diesem Band Bebels Haltung zur Gleichstellung der Frau dokumentiert, beispielsweise in einer Rezension von Adele Gerhardts und Helene Simons "Mutterschaft und geistige Arbeit" (Bd. 7/1, Nr. 13). In einer Haushaltsrede im Reichstag 1902 versicherte Bebel, dass "gegebenenfalls ein weiblicher Reichskanzler von unserer Seite keinerlei Bekämpfung finden [würde], weil er eine Frau ist" (Bd. 8/1, Nr. 52). Besonderen Raum nimmt die weitere innerparteiliche Auseinandersetzung um "Revisionismus" und "Reformismus" (Bd. 7/1, Nr. 11, Nr. 19, Bd. 7/2, Nr. 25), zur Massenstreikdebatte (Bd. 7/2, Nr. 46, Bd. 8/1; Nr. 52) und zu den Budgetbewilligungen der Süddeutschen (Bd. 8/2, Nr. 67, Nr. 72) ein. Die Texte zur Strategie und Taktik der Partei werden wiederum durch Bebels Reden auf den internationalen Sozialistenkongressen ergänzt. Vergleicht man die abgedruckten Reichstagsreden mit der Gesamtzahl der in der Bibliographie erfassten Beiträge, wird deutlich, dass sie nur einen bescheiden Teil von Bebels parlamentarischem Wirken wiedergeben. Doch sind repräsentative und für Bebels politische Arbeit wesentliche Dokumente ausgewählt.
Eine editorische Leistung ist auch die Publikation der Briefe Bebels in Band 5 und 9. "Ich bedaure immer, daß der Tag keine 36 Stunden hat und das menschliche Leben nicht wenigstens 100 Jahre dauert," schrieb Bebel am 12 August 1907 über sein Arbeitspensum an den Historiker Gustav Mayer (Bd. 9, Nr. 167). Schon in den 1860er Jahre verbrachte er als Präsident des Verbands Deutscher Arbeitervereine oft mehrere Stunden täglich mit Korrespondenz. Mit den Jahren vervielfachte sich das Volumen. Da die Lebenserinnerungen nur bestimmte biographische Aspekte berücksichtigen und überdies nur bis zum Beginn der 1880er Jahre reichen, kommt dem Briefwerk eine besondere Bedeutung zu. Angesichts der enormen Zahl von Briefen, die Bebel geschrieben haben muss, ist die bis jetzt bekannte und noch erhaltene Korrespondenz aber eher gering. Dies hängt nicht nur mit politischen Vorsichtsmaßnahmen der Adressaten und polizeilichen Übergriffen zu Lebzeiten Bebels zusammen. Auch die Flucht und erzwungene Emigration von Briefempfängern während der NS-Zeit hat den Bestand der erhaltenen Briefe zusätzlich dezimiert. Auf diese Weise gingen Bebels "etwa 200 z.Th. sehr interessante Briefe" an den nach USA emigrierten Hugo Heimann verloren. (Bd. 7/1, S. 16*).
Im Unterschied zu den ersten Bänden ist in den Bänden 5 und 9 darauf verzichtet worden, bereits an anderer Stelle publizierte Briefe aufzunehmen. Dies bedeutet, dass Bebel-Briefe an Friedrich Engels ebenso ausgespart blieben wie an Victor Adler, und dass der für die Zeit nach Engels' Tod so wichtige Freund und Korrespondenzpartner Karl Kautsky (von einer Ausnahme abgesehen) nicht in Erscheinung tritt. Dagegen wurden einige der im Adler-Briefwechsel enthaltenen Briefe Bebels an Eduard Bernstein (Bd. 5, Nr. 119, 121) von denen verschiedene Abschriften existieren, erneut ediert. Auch zwei der bereits von Peter Bleuel veröffentlichte Briefe Bebels an den in der Schweiz lebenden englischen General-Konsul Heinrich Angst wurden aufgenommen, wobei in einem Fall die Datierung korrigiert wurde. Insbesondere von den ab 1899 edierten Briefen ist der größte Teil bis jetzt unveröffentlicht bzw. wurde nach einer zeitgenössischen Publikation zum erstenmal wieder abgedruckt. Diese Entscheidung ist gutzuheißen, da so mehr Raum für die Veröffentlichung bislang unbekannter Dokumente blieb.
Die Auswahl der Briefe im Einzelnen ist positiv zu bewerten. Für den Zeitraum vom November 1890 bis August 1913 wurden insgesamt 234 Schreiben Bebels herangezogen. Der größte Teil der Briefe stammt aus dem ehemaligen Zentralen Parteiarchiv (Stiftung Archiv der Parteien und Massenbewegungen der DDR), dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam und dem Russischen Zentrum für Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte in Moskau. Auch aus dem Generallandesarchiv Karlsruhe, dem Bundesarchiv, dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn sowie aus einigen anderen Institutionen wurden Dokumente veröffentlicht. Ergänzend wurden früher in der Presse oder an eher entlegener Stelle publizierte Briefe aufgenommen. Bei den Adressaten herrscht eine erfreuliche Vielfalt vor, so dass Bebel für den Leser als Korrespondent in den unterschiedlichsten Kontakten in Erscheinung tritt. Neben führenden deutschen Sozialdemokraten wie Wilhelm Liebknecht, Hermann Molkenbuhr, Georg von Vollmar, Adolf Geck, Eduard Bernstein, Ignatz Auer, Franz Mehring und Clara Zetkin sind auch zahlreiche ausländische Sozialisten vertreten, darunter Jean Jaurès, Jules Guesde, Pieter Jelles Troelstra, Filipo Turati und Georgij Plechanow. Auch Bebels Korrespondenz mit außerhalb der Sozialdemokratie stehenden Persönlichkeiten ist dokumentiert, so befinden sich unter den Adressaten auch Bertha von Suttner, Robert Michels. Gerhart Hauptmann, Minna Cauer und Paul Geheeb. Nicht selten sind es die Briefe an ausländische Sozialisten oder parteipolitisch "Außenstehende", die inhaltlich besonders informativ sind. Neben Stellungnahmen zum Verhältnis Deutschland-Frankreich (Bd. 5, Nr. 74, Nr. 83), zur Auseinandersetzung mit Bernstein (Bd. 5, Nr. 122, Bd. 9, Nr. 99, Nr. 102), zu Bildungsfragen (Bd. 5, Nr. 108), findet der Leser zahlreiche Parteiinterna, Hintergrundinformationen und Erinnerungen an die frühen Jahre der Arbeiterbewegung, so u.a. einen ursprünglich im "Vorwärts" veröffentlichten Brief Bebels an den preußischen Innenminister Johann von Dallwitz. Darin gestand Bebel zu, in Umkehrung der üblichen Umstände auch einmal die Dienste eines kooperationswilligen Mitglieds der politischen Polizei für die Zwecke der Sozialdemokratie in Anspruch genommen zu haben, "um die teuflischen Pläne der Firma Bismarck-Puttkamer gegen uns zu durchkreuzen". (Bd. 9, S. 212). Eine Ausweitung der Briefe-Edition wäre wünschenswert gewesen, denn nach wie vor ist ein großer Teil der Korrespondenz nicht publiziert. So wäre gewiss eine weitaus größere Zahl von Dokumenten aus dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam oder russischen Beständen für die Veröffentlichung geeignet. Über die Empfänger der Briefe hätte man sich oft ausführlichere Informationen gewünscht. Zwar gibt es ein Personenregister, doch sind die dort Aufgeführten nur mit Lebensdaten versehen, Hinweise auf Berufe, Funktionen etc. fehlen vollständig. Demgegenüber sind in dem Reprint des sechsten Bandes die Kurzbiographien im Register unbearbeitet übernommen worden. Somit bleibt Eduard Bernstein "einer der Führer des opportunistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale" (Bd. 6, S. 740).
Ein editorisches Glanzstück der Ausgabe ist das in Band 10/1 und 10/2 publizierte theoretische Hauptwerk Bebels, "Die Frau und der Sozialismus". Das Buch, in dem wie in kaum einem anderen Werk Bebels die enge Verknüpfung seiner Idee des Sozialismus mit dem Glauben an den Sieg des technischen Fortschritts zum Ausdruck kommt, wird in zwei Ausgaben vorgestellt - nach dem Text der Erstausgabe von 1879 und in der "Ausgabe letzter Hand", der 50. Auflage, aus dem Jahr 1910. Aufgenommen wurden außerdem sämtliche Vorworte Bebels zu den veränderten und ergänzten Ausgaben und - was besonders hervorzuheben ist - auch eine Vorstudie, die unter dem Titel "Über die gegenwärtige und zukünftige Stellung der Frau" im Jahr 1875 erschienen ist. Auch das in der DDR-Literatur unterschlagene Vorwort Eduard Bernsteins von 1929 wurde in Form einer Anmerkung abgedruckt. Zugleich wurde Bebels theoretisches Hauptwerk durch ein (ebenfalls zu wenig informatives) Personenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis und ausführliche Anmerkungen erschlossen. Die außerordentlich informative "Editorische Vorbemerkung" von Anneliese Beske bietet eine Fülle von interessanten Informationen zur Werk- und Rezeptionsgeschichte eines Buches, das bis heute über 80 deutschsprachige Auflagen erlebt hat und für Generationen von Frauen aus Arbeiterkreisen der Schlüssel zur politischen Emanzipation schlechthin war; noch die Nationalsozialisten hielten es für gefährlich genug, um es bei der Bücherverbrennung in Berlin am 10. Mai 1933 den Flammen zu übergeben (Bd. 10/1, S. 4*). Zu Recht wird auf die frühe positive Prägung, die Bebel in der Frauenfrage durch Kontakte in der Arbeitervereinsbewegung und der frühen Frauenbewegung in Leipzig in den 1860er Jahren erfuhr, verwiesen. Die umfangreichen Fußnoten zur "Frau" in Band 10/2 mit ihren zahlreichen Details zur Geschichte der Frauenfrage und aufschlussreichen Querverweisen machen die Lektüre zu einem Gewinn und zum Vergnügen zugleich.
Mit den Ausgewählten Reden und Schriften" liegt eine Edition vor, die einen umfassenden und repräsentativen Überblick über Bebels politische und publizistische Arbeit in ihren zeitgeschichtlichen Zusammenhängen ermöglicht. Durch die sorgfältige Kommentierung der Texte in den zahlreichen Anmerkungen und die umfangreichen bibliographischen Hinweise entstand nicht nur ein materialreiches Werk für den Fachhistoriker. Bebels Reden, Schriften und Briefe stellen zugleich ein Lesebuch zur Geschichte des Kaiserreichs dar, das (z.B. in Form einer preiswerteren Studienausgabe) einen größeren Leserkreis verdient hat.
Eine hervorragende Ergänzung zu den Ausgewählten Reden und Schriften" bildet der von Ursula Hermann edierte Schriftwechsel von August und Julie Bebel. Die "Briefe einer Ehe" ermöglichen nicht nur eine differenziertere Einschätzung der Persönlichkeiten Bebels und seiner Frau Julie. Das Buch zeigt zugleich, wie gravierend und folgenreich für die gesamten Lebensumstände politisches Engagement von Sozialdemokraten im Kaiserreich war.
Die Herausgeberin veröffentlicht 168 Briefe (119 wurden von August Bebel verfasst, 49 von Julie Bebel) sowie im Anhang einige Briefe Julie Bebels an Friedrich Engels und Natalie Liebknecht. Von einer geringen Anzahl von Briefen August Bebels abgesehen, die bereits an anderer Stelle abgedruckt wurden, handelt es sich um erstmals veröffentlichte Dokumente. Die meisten stammen aus dem Nachlass der 1948 verstorbenen Tochter Frieda Simon-Bebel, die ursprünglich im Zentralen Parteiarchiv der SED (Stiftung der Parteien- und Massenbewegungen der DDR im Bundesarchiv) aufbewahrt wurden, weitere Briefe befinden sich im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, zwei Briefe im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Im Hinblick auf die Gesamtkorrespondenz Bebels muss davon ausgegangen werden, dass diese Dokumente wiederum nur einen Teil der ursprünglich an Julie Bebel gerichteten Briefe darstellen. Die Briefe entstanden während Bebels häufiger Abwesenheit von der Familie - sei es durch Geschäfts- und Agitationsreisen oder Teilnahme an Parteikongressen - sei es durch Gefängnisaufenthalte oder durch die Ausweisung aus Leipzig während des Sozialistengesetzes. Dieser Entstehungshintergrund der Korrespondenz gibt die Gliederung des Bandes vor. Zur Erläuterung der äußeren Umstände hat die Herausgeberin jeweils eine kurze Einführung vorangestellt.
In der knappen Einleitung stehen statt der politischen Biographie Bebels die privaten Lebensumstände und Julie Bebel im Mittelpunkt. Als jüngstes von sieben Kindern eines Handarbeiters und einer Köchin war sie vor der Eheschließung Arbeiterin in einem Putzwarengeschäft. Ihr ausgeglichenes Wesen, Entschlossenheit und Umsicht im Handeln, machten sie zur idealen Lebenspartnerin des mit Partei- und Firmengeschäften Überlasteten und immer wieder polizeilich verfolgten August Bebel. Während seiner häufigen Abwesenheit führte sie das Drechslergeschäft, als dessen Inhaberin sie 1872 offiziell in das Gewerberegister eingetragen wurde. Julie Bebel war selbständiges Handeln gewöhnt. Als eine "resolute Geschäftsfrau, die viel Fachkenntnisse besitzt und sich stets um das Geschäft bekümmert", schilderte sie 1882 ein interner Polizeibericht - Bebels Gesuch auf Hafturlaub zur Abwicklung der Inventur in seiner Firma wurde wie schon im Jahr zuvor aus eben diesem Grund abgewiesen (S. 150). Treffsicher und selbstbewusst mutet auch ihr Urteil über Alltagsangelegenheiten, Personen und politische Ereignisse an. Naturgemäß nahmen die politische Arbeit Bebels und die damit verbundenen Auswirkungen auf Geschäft und Familienleben breiten Raum in der Korrespondenz ein. Nach Bebels Ausweisung aus Leipzig und während seiner Gefängnisaufenthalte zur Zeit des Sozialistengesetzes fiel Julie Bebel auch eine zentrale Rolle bei der Abwicklung der Parteigeschäfte zu. Sie erledigte die Korrespondenz, sammelte und zahlte Unterstützungsgelder. Gelegentliche Verstimmungen blieben nicht aus (vgl. S. 384), wurden aber bald behoben. Für Bebel, der in der Öffentlichkeit oft das Ziel gehässiger Attacken war, bedeutete das Familienleben mit Frau und Tochter ein überaus kostbares Refugium. Dennoch hatten Ehe und Familie für ihn auch eine politische Dimension. Beteiligten sich beide Partner am Kampf für eine neue Gesellschaftsordnung, so idealisiere sich ihr Eheleben, schrieb er in "Die Frau und der Sozialismus". Beide hätten durch das gemeinsame Ziel "eine unversiegbare Quelle der Anregung durch den Meinungsaustausch, zu dem ihr gemeinsamer Kampf sie führt" (S. 20, zit. nach ARS, Bd. 10/2, S. 361). In diesem Licht sah Bebel zweifellos seine eigene Ehe, auch wenn Julie Bebel trotz ihrer intensiven geschäftlichen Tätigkeit der traditionelle Frauenpart zufiel. Dass Julie Bebel "in die beruflichen Probleme und das politische Wirken ihres Ehegatten voll einbezogen" war (so Hermann, S. 21), durfte jedoch auch unter Sozialdemokraten als keineswegs selbstverständlich gelten.
Alle Texte sind mit außergewöhnlicher Sorgfalt kommentiert. Sie bieten nicht nur Informationen über die persönlichen Lebensverhältnisse eines sozialdemokratischen Arbeiterführers und Reichstagsabgeordneten; Ursula Herrmann führt den Leser zugleich in ein weitverzweigtes soziales Beziehungsgeflecht ein, das Einblicke bezüglich Herkunft, Lebensstil, Umgang und Mentalität prominenter und weniger bekannter Sozialdemokraten der Zeit ermöglicht. Auch Bebels Kontakte außerhalb des sozialdemokratischen Milieus werden erhellt. Allein die Lektüre der Fußnoten bietet eine ungewöhnliche Fülle von Lebensgeschichten und Lebensumständen, die aber zugleich knapp und präzise formuliert und mit dem Blick für historisch relevante Details verfasst wurden. Hervorzuheben ist hier insbesondere, dass neu ermittelte Daten zu weniger bekannten Personen ausführlich belegt wurden. So enthält dieser Band nicht zuletzt zahlreiche aufschlussreiche Angaben über Bebels Leipziger Umfeld.
Die Briefe des Ehepaars Bebel vermitteln nicht nur Details über Partei- und Reichstagsangelegenheiten, Polizeiwillkür, Gefängnisaufenthalte und Geschäftliches, sie geben ebenso Aufschluss über Lektüre, Theaterbesuche und Reiseeindrücke. Auch das Schicksal der Tochter Frieda wird erörtert, die nach dem extern erworbenen Abitur in Zürich Medizin studierte und den Arzt und Sozialisten Ferdinand Simon heiratete. Ihre Erziehung und Ausbildung war Bebel ein besonderes Anliegen. Ihr Zugang zur höheren Bildung war mit beträchtlichen Anstrengungen verbunden und war außergewöhnlich für eine Zeit, in der sich Mädchen und Frauen vor allem aus dem Bürgertum Abitur und Studium erkämpften. In die Erziehung Friedas floss zweifellos vieles ein, was Bebel für die Stellung der Frauen in der Gesellschaft wünschenswert hielt. Neben der Persönlichkeit Bebels, durch dessen politische Arbeit das Familienleben dominiert wurde, treten in den Briefen Frau und Tochter in ihren Lebensentwürfen hervor. Dabei stellt die Herausgeberin stets Bezüge zum historischen Hintergrund und den rechtlichen und politischen Einschränkungen her, denen Frauen in dieser Zeit ausgesetzt waren. "Früher war ich oft sehr unzufrieden, dass ich so gar nichts für meine geistige Ausbildung tun konnte", schrieb Julie Bebel an Friedrich Engels im Februar 1892 nach London, aber mich hat doch das Bewusstsein glücklich gemacht, für meinen Mann die häusliche Behaglichkeit schaffen zu können, die ihm zu seiner geistigen Entfaltung und Arbeit so nötig war". Durch die zeitweise Führung der Parteigeschäfte sei sie jedoch in den Geist der Bewegung eingedrungen und heute mit ganzer Seele dabei" (S. 616). Diese Aussage über die Ehe des Verfassers von "Die Frau und der Sozialismus" (in Parteikreisen unter dem Decknamen Frau Julie" vertrieben) mag vordergründig als Beleg für einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gelten. Die Lektüre des hervorragend edierten Briefwechsels liefert manches, was diese These stützt, fügt dem Bild aber auch Differenzierungen hinzu und lässt die Spuren eines historischen Wandlungsprozesses bei Mentalitäten und Einstellungen erkennen.
Nach dem Abschluss der großen Bebel-Edition bleibt bleibt trotz einiger vorhandener Monographien und Spezialuntersuchungen der Wunsch nach einer umfassenden Biographie. Sie sollte nicht nur das bereits gut dokumentierte Leben Bebels erfassen, sondern auch den Forschungstand zur Sozialgeschichte des Kaiserreichs und zur Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert berücksichtigten. Denn Bebel bleibt eine zentrale Figur der neueren deutschen Geschichte, in deren Biographie sich kollektive Aufbrüche, Lebensentwürfe und politische Hoffnungen von Arbeitern ebenso spiegeln wie die Prägung von Persönlichkeiten durch die sozialen Bewegungen ihrer Zeit und ihre Möglichkeiten und Grenzen bei der Beantwortung neuer Entwicklungen.
Ilse Fischer, Bonn