Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Heinrich Potthoff, Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Verlag J. H. W. Dietz/Nachf., Bonn 1997, 787 S., geb., 58 DM.

Nach der Dokumentation der Gespräche Erich Honeckers mit westdeutschen Politikern vom Beginn der Regierung Kohl bis zum Fall der Mauer (Die „Koalition der Vernunft", München 1995) hat Heinrich Potthoff ein zweites Grundlagenwerk zur Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen vorgelegt: Gesprächsaufzeichnungen, dazu einige vertrauliche Briefe und „non-papers" aus dem deutsch-deutschen Dialog in den Jahren 1969 bis 1982, d.h. vom Erfurter Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph bis zum Ende der sozialliberalen Koalition. Neben den Aktenbeständen der DDR konnten dazu zum ersten Mal in größerem Umfang interne Materialien der westdeutschen Seite herangezogen werden, insbesondere die Sammlungen von Egon Bahr und die Archive von Helmut Schmidt. Dies ermöglichte es, den Dialog auf höchster Ebene weitgehend ohne Verzeichnungen abzubilden. Wenn Gespräche nur referierend dokumentiert sind, werden, soweit vorhanden und nicht schon anderweitig veröffentlicht, beide Fassungen, die ostdeutsche und die westdeutsche, zum Vergleich wiedergegeben. Der Herausgeber hat knappe Erläuterungen hinzugefügt sowie eine umfangreiche Einleitung, die über die verhandelten Gegenstände und die dabei zutage tretenden Konzeptionen in Grundzügen unterrichtet. Auf diese Weise ist ein vorzügliches Arbeitsinstrument entstanden, das es erlaubt, denunziatorische Manöver gegen die Akteure der sozialliberalen Ostpolitik, wie es sie nach dem Zusammenbruch der DDR häufig gegeben hat, in aller Deutlichkeit zurückzuweisen.

Bei der Dokumentation der Gespräche und Verhandlungen bis zum Abschluss des Grundlagenvertrags wird zunächst deutlich, dass die SED-Führung nach den Erfurter Sympathiebekundungen für Brandt dezidiert auf Verweigerungskurs ging: Der Bonner Regierung sollte vor Augen geführt werden, dass unterhalb einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR nichts zu erreichen war. Erst Ende Oktober 1970 erklärte die DDR-Regierung durch einen Emissär mündlich ihre Bereitschaft zum „Meinungsaustausch über Fragen, deren Regelung [...] der Entspannung dienen würde". Überzogen erscheint Potthoffs Wertung, bei einem Treffen der Ostblockführer am 31. Juli 1972 seien für den Grundlagenvertrag „die Weichen gestellt" worden. Tatsächlich gab es Verhandlungsfortschritte auch schon zuvor, und um in der Präambel des Grundlagenvertrages „unterschiedliche Auffassungen zur nationalen Frage" festhalten zu können, bedurfte es durchaus noch einmal einer Intervention Bahrs bei Breschnew Anfang Oktober 1970.

Mit der Kritik an der „Bahr-Logik des Schlüssels in Moskau" korrespondiert eine uneingeschränkt positive Einschätzung des direkten vertraulichen Kontakts mit Erich Honecker, den Herbert Wehner mit seinem Besuch in der Schorfheide Ende Mai 1973 einleitete: Er habe zu „einer im Kern neuen Deutschlandpolitik" geführt, deren „Ergebnis [...] sich wahrlich sehen lassen" könne. Dabei bleibt außer Acht, dass Bahr nach dem Abschluss des Grundlagenvertrages ein hohes Tempo angeschlagen hatte, gegen das sich die DDR-Führung verständlicherweise sperrte. Dass sie in dieser Situation Wehner zu einem vertraulichen Gespräch mit Honecker einlud, muss auch als Versuch gesehen werden, die Durchsetzung eines „realistischen" Kurses in der Bundesregierung zu beschleunigen. So richtig es aus Bonner Sicht war, die Gelegenheit zur Etablierung eines vertraulichen Kanals zu ergreifen, die sich hier bot, so beschränkt war von vorneherein, was auf diesem Wege erreichbar war. Ein wesentliches Verdienst der Dokumentation besteht darin, zu zeigen, wie der vertrauliche Kanal dann funktionierte. Nach dem Rücktritt Brandts signalisierte Honecker Wehner seine Bereitschaft zum Entgegenkommen in einer ganzen Reihe von Punkten, damit „’die reaktionärste Spielart deutscher Politik’ in der BRD nicht zum Tragen kommt". Dreieinhalb Jahre später, im Dezember 1977, ging der Anstoß zu einer weiteren Verbesserung des deutsch-deutschen Verhältnisses von Helmut Schmidt aus. Honecker reagierte verhalten positiv, sodass im November 1978 eine Reihe neuer Vereinbarungen zum Abschluss gebracht werden konnte. Bei der Krise der Ost-West-Beziehungen, die der Nachrüstungsbeschluss und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan Ende 1979 auslösten, zeigten sich beide Seiten um Schadensbegrenzung bemüht. Honecker drängte Schmidt geradezu, nach Moskau zu fahren und dort mit Breschnew nach einem Ausweg zu suchen.

Die Dokumentation enthält auch weitere Hinweise darauf, dass Honecker hinsichtlich der Zugeständnisse in humanitären Fragen selbst unter Druck stand, zumindest im Kontext der Polen-Krise von 1980. Nach der Geraer Rede ließ er Schmidt über Günter Gaus vertraulich ausrichten, „von einem Kurswechsel könne keine Rede sein" und es gelte weiterhin seine Weisung, „den Schießbefehl so zurückhaltend wie möglich auszulegen". Schmidt, der solche Signale begierig aufgriff, drängte Honecker seinerseits, in Moskau auf die Verhinderung einer Intervention in Polen und ernsthafte Zugeständnisse in der eurostrategischen Rüstung hinzuwirken.

Dass er dabei gewisse Illusionen hegte, wird in der Präsentation der Texte allerdings nicht deutlich. Weder weist Potthoff darauf hin, dass die Verschiebung des ursprünglich für Februar 1980 geplanten Arbeitsbesuchs Schmidts in der DDR von Moskau diktiert worden war, noch erfährt man, dass Honecker in der Frage einer Intervention gegen Solidamoœæ gegenüber Breschnew tatsächlich als Scharfmacher auftrat. Offenkundig haben aber Wehner und Schmidt die Möglichkeiten, die sich aus dem direkten Kontakt zu Honecker ergaben, ebenso sehr überschätzt wie Bahr sie weiterhin unterschätzte.

Die einseitige Parteinahme im Streit der unterschiedlichen Exponenten sozialdemokratischer Ostpolitik schränkt den Wert der Dokumentation freilich nicht weiter ein. Gegen billige Polemik aus der Retrospektive macht sie eindrucksvoll deutlich, wie hartnäckig, kraftvoll und mit langem Atem die Verhandlungsführer der sozialliberalen Koalition um „menschliche Erleichterungen" und ein Höchstmaß an Begegnungen zwischen Ost und West gerungen haben.

Wilfried Loth, Essen



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