Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Rolf Spiker/Bernd Ulrich (Hrsg.), Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918, Verlag Rasch, Bramsche 1998, 351 S., geb., 48 DM.

Gedenktage haben ihre Vorzüge. Oft können sich durch die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis unerwartete Bezüge zu einer anderen Geschichte herstellen. Im Rahmen der in Münster und Osnabrück begangenen pompösen Feiern zum Jubiläum „350 Jahre Westfälischer Friede" im Jahre 1998 entschloss man sich, auch des sich zum achtzigsten Male jährenden Endes des Ersten Weltkrieges in Form einer Ausstellung zu gedenken. Als Geburtsstadt von Erich Maria Remarque, der im gleichen Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte, bot sich Osnabrück auch hier als Veranstaltungsort an. Die Ausstellung unter dem expressionistischen Titel „Der Tod als Maschinist" – den die Ausstellungsmacher einem Werk von Wilhelm Lamszus entnahmen – orientiert sich an dem Handlungsablauf in Remarques berühmtesten Roman „Im Westen nichts Neues" (Kriegsausbruch und Einberufung, Fronterlebnis und Heimaturlaub, Verwundung und Kriegsende). Der didaktische Vorzug dieses Konzeptes liegt auf der Hand: Der Besucher der anschaulich präsentierten und informativ kommentierten Ausstellung im Museum Industriekultur in Osnabrück bekam so zur Epoche des Ersten Weltkriegs einen unmittelbaren Zugang.

Bedenkt man die verhältnismäßig bescheidenen Mittel, die den Ausstellungsmachern zur Verfügung standen, überraschte die Qualität ihrer Präsentation, deren wissenschaftlicher Wert wohl den der großen Weltkriegsretrospektive 1994 in Berlin übertraf. Das gilt auch für den parallel veröffentlichten Ausstellungskatalog. Der mit 90 Seiten recht knapp gehaltene, reich bebilderte Katalogteil enthält die Beschreibung der wichtigsten Fotos, Dokumente und Objekte. Auch dem Besucher mit geringerem Vorwissen eröffnen sich so die verschiedenen Aspekte des „industrialisierten Krieges", die von den ökonomischen und rüstungstechnischen Veränderungen über die sich wandelnden mentalen Dispositionen und Wahrnehmungsformen bis hin zu dem Kriegserlebnis der „Heimatfront" und den Opfern des totalen Krieges reichen.

Diese Entwicklung steht auch im Mittelpunkt des 250 Seiten umfassenden Textteils des Bandes. Die Autoren fragen nach dem historischem Ort der Weltkriegsepoche, nach den Bedingungen, Erscheinungen und Folgen des modernen, technisierten Massen- und Vernichtungskrieges, der auf dem Weg zum totalen Krieg die Grenze zwischen Kombattanten und Zivilisten immer weiter aufhob. Dabei überzeugt die Einbeziehung der unmittelbaren Vorkriegs- und Nachkriegsjahre in das Konzept weit mehr als die von den Ausstellungsmachern gewählte Beschränkung auf die Westfront als Symbol für das neuartige Vernichtungs- und Gewaltpotenzial des industrialisierten Krieges. Gerade die sich abzeichnende Politik der „ethnischen Säuberung" an der Ostfront enthielt, wie Michael Geyer als einziger in seinem Beitrag zu Recht herausstellt, wesentliche Elemente eines zukünftigen totalen Krieges. Auch wenn die Autoren daher, dem vielzitierten Diktum George F. Kennans von der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" folgend, eher den Zäsurcharakter des Weltkrieges betonen und die Kontinuitäten unterbelichten, schmälert das nicht die insgesamt hohe Qualität der neunzehn Beiträge. Das kulturwissenschaftliche Übergewicht zu Lasten sozial- und vor allem politikgeschichtlicher Fragestellungen reflektiert dabei das gegenwärtige Forschungsinteresse.

Das Inhaltsverzeichnis des Textteils liest sich wie ein „Who is Who" der neueren und neuesten deutschen Weltkriegsforschung und bietet einen vorzüglichen Überblick über den Stand der Diskussion. Auf einige der gewinnbringenden Aufsätze soll hier etwas näher eingegangen werden: Nach einer allgemeinen Einordnung und Bewertung des Ersten Weltkriegs für die deutsche Geschichte durch Reinhard Rürup behandelt die Sektion „Kriegseinstellungen" die affirmativen, oftmals illusorischen Vorstellungen vom Krieg vor 1914, aber auch - im Beitrag von Jeffrey Verhey – die Grenzen der jahrzentelang überschätzten Kriegsbegeisterung des August 1914. Im Abschnitt zum neuen „industriellen Charakter des Krieges" geht Thomas Flemming der Frage nach, inwieweit die an der Wende zum 20. Jahrhundert sich rapide verändernde Arbeits- und Wirtschaftsstruktur organisatorisch und mental den industrialisierten Krieg vorbereitete. Wolfgang Kruse untersucht in seinem Beitrag das Verhältnis von Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft und verweist hier auf das bereits von Jürgen Kocka erkannte Paradoxon, dass die enorme Intensivierung der Kriegsproduktion die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland gefährdete und schließlich zerstörte, in deren Namen und zu deren Bewahrung doch die Kriegsanstrengungen eigentlich erfolgten. In der größten Sektion über die „Wahrnehmungsformen des Krieges" geht es zunächst um die verschiedenen Medien (Literatur, Postkarten, Fotos, Plakate) mit denen die Zeitgenossen – meist vergeblich – versuchten, den Krieg zu verstehen und der Katastrophe Sinn zu verleihen. Klaus Latzel arbeitet anhand von Feldpostbriefen in seinem Beitrag diese Unzulänglichkeit vertrauter Ordnungsmuster in der kämpfenden Truppe heraus. Das schockierende Kriegserlebnis sprengte die Wahrnehmungsfähigkeiten der Soldaten, deren Kriegsbild lange von dem des 19. Jahrhundert geprägt wurde. Benjamin Ziemann analysiert die verschiedenen posthumen, meist affirmativen Konstruktionen des Kriegserlebnisses. Das sozialdemokratische Lager hatte in der Weimarer Republik den an tradierte Mythen anschließenden Deutungen der Konservativen und Nationalsozialisten wenig entgegenzusetzen. Der letzte Abschnitt handelt schließlich von dem schweren historischen Erbe des Ersten Weltkriegs. In dem vielleicht gewichtigsten, wenn auch in etwas dunkler Sprache verfassten Beitrag des Kataloges geht Michael Geyer der durch den Ersten Weltkrieg eröffneten neuen Dimension von Gewalt und Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert nach. Aus der Bereitschaft der kriegführenden Gesellschaften, für einen militärischen Sieg wahrhaft unbegrenzt Menschen, Material und Finanzen zu opfern, resultierte nicht nur die Entstehung des industrialisierten Vernichtungskrieges und die Entvölkerung ganzer Regionen in Osteuropa. Mit der Totalisierung der Feindschaft erfolgte auch die Verlagerung des Krieges in das Innere der Gesellschaften mit weitreichenden polarisierenden und destabilisierenden Wirkungen.

Das anhaltende Interesse am Ersten Weltkrieg ist sicherlich nicht zuletzt aus der Erkenntnis zu erklären, dass diese Epoche den Ausgangspunkt für einen zweiten, nun vollständig totalen und völkermordenden Weltkrieg markiert. Das Verdienst des vorliegenden Ausstellungskataloges ist es, auf diese Tendenzen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verweisen und eine in dieser Form seltene Verbindung von aktueller Forschung und anschaulicher Präsentation zu bieten.

Sven Oliver Müller, Bielefeld



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