Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Alfons Söllner/Ralf Walkenhaus/Karin Wieland (Hrsg.), Totalitarismus, Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Verlag Akademie, Berlin 1997, 298 S., geb., 78 DM.

Der Sammelband, den Politikwissenschaftler aus Chemnitz herausgegeben haben, beansprucht, am Ende des 20. Jahrhundert, während sich langsam der Rauch über dem alten Kampfgetümmel um den Totalitarismusbegriff verzieht und das Konzept andererseits neue Aktualität gewinnt, die Stellung der Totalitarismustheorie in der politischen und politikwissenschaftlichen Ideengeschichte auszuloten und ihre Interpretationskraft zu bestimmen. Die Beiträge, die exemplarisch den Konjunkturen und Verzweigungen der Diskussion des Totalitarismuskonzepts nachgehen, bieten wertvolles Hintergrundwissen über die Totalitarismustheorie, die nach dem Zusammenbruch der politischen Systeme Osteuropas und der einsetzenden "Vergangenheitsbewältigung" eine Renaissance erlebt und auch zu einer Epochendeutung des 20. Jahrhunderts herangezogen wird.

Das Interpretationsmuster "Totalitarismus" zur Beschreibung und Analyse politischer Systeme hat seine ideengeschichtlichen Wurzeln in den 1920er Jahren, als es um die Auseinandersetzung mit autoritären Ideologien und Machtansprüchen in den sich krisenhaft wandelnden Gesellschaften der aufsteigenden Industriestaaten ging, die nach Herrschaftsinstrumenten zur Steuerung ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme suchten und jene in der Errichtung eines "totalen Staates" zu finden meinten. Als erste hatten italienische Antifaschisten totalitarismustheoretischen Überlegungen und frühe Vergleiche angestellt. Den Autoren des Sammelbandes gelingt es, die politischen und ideengeschichtlichen Milieus zu bestimmen, in denen dann die Totalitarismustheorie seit den 1920er Jahren in Auseinandersetzung mit Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus fortentwickelt wurde. Die Diskussion des Totalitarismuskonzeptes wurde zunächst von den Antifaschisten unterschiedlicher Herkunft und den (emigrierten) Opfern von Nationalsozialismus und Stalinismus geprägt, die hier auch eigene Erfahrungen verarbeiteten. Im Lager derjenigen, die Demokratie und Pluralismus ablehnten, avancierte die Vorstellung des "totalen Staates" zur Alternative zum demokratischen Verfassungsstaat und zur Rechtfertigung der alle Lebensbereiche durchdringenden Politik des Nationalsozialismus.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus griff in Westdeutschland die Politikwissenschaft, die sich als "Demokratiewissenschaft" an den Universitäten etablierte, das Interpretationsmuster der Totalitarismustheorie auf. Das Konzept diente nun einerseits zur Analyse und Erklärung des Nationalsozialismus und andererseits, im Kalten Krieg, zur Abgrenzung vom Stalinismus. Der Sammelband reflektiert nüchtern diese Diskussion um die Totalitarismustheorie und vor allem die in der späteren Kritik am Totalitarismuskonzept oft vernachlässigten empirischen Arbeiten über den Nationalsozialismus und die SBZ/DDR. Allerdings zeigte sich auch schon bald die begrenzte Erklärungskraft der immer politikwissenschaftlich und politisch-normativ verwendeten Totalitarismuskonzepte, die vor allem in der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus die wichtigen Unterschiede der politischen Systeme aus dem Blick geraten ließen. Ein besonderes Verdienst des Sammelbandes ist dann der Blick über die deutsche Diskussion hinaus auf die amerikanischen Debatten und vor allem auch auf die französische Auseinandersetzung mit den totalitarismustheoretischen Vorstellungen, die keineswegs erst in jüngerer Zeit geführt werden, zuletzt aber stärker auch den Stalinismus in den Blick nahmen.

Nachdem in Westdeutschland die Konzepte der Totalitarismustheorie und die Gleichsetzung von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus seit den 1960er Jahren scharf kritisiert worden waren und auch ihre begrenzte Erklärungskraft sichtbar wurde, tauchten Elemente des totalitarismustheoretischen Gedankengebäudes im "Historikerstreit" wieder auf. Auf diese jüngere Ideengeschichte des Totalitarismus geht der Sammelband abgesehen von allgemeineren Verweisen kaum ein. Ebenso mangelt es dem ideengeschichtlichen Zugang an einer Reflexion des mittlerweile erreichten Forschungsstandes über die "totalen" Regime. Viele Elemente der Totalitarismustheorie, die längst widerlegt oder korrigiert sind, bleiben außer Acht.

Wie sich in der Wahl der Themen und der Anwendung der totalitarismustheoretischen Interpretationsmuster der frühen westdeutschen Politikwissenschaft der Gegenwartsbezug wissenschaftlicher Arbeit zeigte, erklärt sich auch seit den Veränderungen von 1989 das erneute Aufgreifen des Totalitarismuskonzepts aus den Versuchen, die Regime in Osteuropa begrifflich zu fassen.

Die Beiträge des Sammelbandes machen deutlich, wie unterschiedlich das Totalitarismuskonzept benutzt und wie es immer wieder normativ aufgeladen wurde ("Zwitterexistenz aus Ideologie und Wissenschaft" - S. 11), so dass es letztlich fraglich erscheint, ob man denn diesem Interpretationsmodell, das im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Beschäftigung mit Regimen spielte, die Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und das private Leben "total" erfassten, mehr als eine historische Bedeutung beimessen sollte.

Stefan Goch, Gelsenkirchen



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