Archiv für Sozialgeschichte
Rezension
Peter Schaller, Die Industrialisierung der Stadt Ulm zwischen 1828/34 und 1875. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studie über die Zweite Stadt" in Württemberg (= Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Bd. 27), Stuttgart 1999, 392 S., Paperb., 56 DM.
Je mehr sich die europäische Industrialisierungsforschung in den letzten Jahrzehnten dem Problem der regionalen Industrialisierung zugewandt hat, desto deutlicher ist geworden, dass der Industrialisierungsprozess keineswegs den vom Pionierland England vorgegebenen Bahnen folgte, sondern von einer Vielzahl unterschiedlicher Wege geprägt war. Die regionale Industrialisierungsforschung hat inzwischen auch in Deutschland große Fortschritte gemacht und dabei die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Verlaufsformen herausgearbeitet. Das Königreich Württemberg, das zwar zunächst nicht zu den industriellen Führungsregionen gehörte, aber noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts zu anderen Regionen aufzuschließen begann, zählt eigentlich zu den bereits gut erforschten Gebieten. Nicht nur Württemberg als Ganzes, sondern auch einzelne Städte wie Esslingen oder Branchen wie die Textilindustrie sind in wegweisenden Arbeiten behandelt worden. Die nun vorliegende Studie über die Industrialisierung der zweitgrößten württembergischen Stadt ist ein weiterer wichtiger Beitrag zur regionalen Industrialisierung.
Der Verfasser untersucht auf der Basis eines umfassenden Archivmaterials den wirtschaftlichen Strukturwandel der Stadt Ulm zwischen 1828 und 1875. Die Begründung für die gewählten Zäsuren ist überzeugend. 1828 wurden für die Stadt durch den bayerisch-württembergischen Zollverein und die Veränderungen im Gewerberecht neue wirtschaftsrechtliche Grundlagen geschaffen. Mitte der siebziger Jahre sorgte die Gründerkrise für einen Einschnitt im lokalen Industrialisierungsprozess. Im ersten großen Abschnitt widmet sich der Verfasser der auf die Zeit von 1828 bis 1854 datierten Frühindustrialisierung. Nach den schwierigen ersten Jahrzehnten setzte in der städtischen Wirtschaft seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein Aufschwung ein, der durch Fortschritte im Bereich der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Verbesserungen im Verkehrssektor und nicht zuletzt durch den wirtschaftlich wichtiger werdenden Festungsbau getragen wurde. Der Verfasser warnt aber zu Recht davor, das Ausmaß dieses Aufschwungs zu überschätzen. Spektakuläre Entwicklungen im Bereich der modernen Industrie waren noch nicht zu erkennen, zumal der wichtigste Zweig der württembergischen Frühindustrialisierung, die Textilindustrie, in Ulm nur wenig Fuß fassen konnte. Darüber hinaus wirkten sich die verschiedenen vormärzlichen Wirtschaftskrisen hemmend aus. Dennoch kann der Verfasser in seinen Untersuchungen zur Sozialstruktur zeigen, dass sich der wirtschaftliche Wandel bereits vor 1850 hier niederzuschlagen begann. Die Zahl der abhängig Beschäftigten stieg stärker an als in anderen württembergischen Städten. Dies war zwar auch die Folge der mit dem Festungsbau zusammenhängenden Zuwanderung. Weit mehr schlug aber zu Buche, dass zunächst einmal Teile der alteingesessenen Ulmer Bürgerschaft in abhängige Arbeitsverhältnisse gerieten. Gerade die neue Fabrik- und Manufakturarbeiterschaft, deren Klassenbildungsprozess nach Ansicht des Verfassers bereits deutlich voranschritt, rekrutierte sich zunächst einmal vorwiegend aus der eigenen städtischen Bevölkerung.
Die skizzierten sozialen Entwicklungen beschleunigten sich seit Mitte der fünfziger Jahre, als Ulm nach Jahren der Krise in eine neue Wachstumsphase trat. Ausgehend von einem Überblick über die weiterhin ungleichmäßig verlaufende konjunkturelle Entwicklung wird zunächst analysiert, wie sich die industrielle Produktionsweise in der gewerblichen Wirtschaft durchsetzte, wobei den stark expandierenden Zweigen der Metall- und Maschinenbauindustrie besondere Aufmerksamkeit zufällt. Fragen des technologischen Wandels werden hier ebenso angesprochen wie die der Nutzung neuer Energieträger. In einem eigenen Abschnitt über die Rekrutierung der Ulmer Unternehmerschaft zeigt der Verfasser, wie sehr der lokale Industrialisierungsprozess von aus dem Handwerk kommenden Unternehmern getragen wurde. Das Herauswachsen aus bereits etablierten Gewerbestrukturen machte zunächst auch keine Industriefinanzierung großen Stils nötig. Schaller verweist darauf, dass die Banken lange Zeit eine eher unbedeutende Rolle bei der Kapitalbeschaffung spielten und das notwendige Kapital vor allem von Unternehmern selbst, bzw. ihrer Verwandtschaft kam. Daneben spielte auch das Ulmer Hospital bei der Industriefinanzierung eine gewisse Rolle. Was die staatliche Gewerbeförderung angeht, so bestätigt sich auch in Ulm, dass sie von eher untergeordneter Bedeutung war. Den Abschluß der Arbeit bildet ein Überblick über die sozialen Entwicklungen zwischen 1855 und 1875. Am Ende des Untersuchungszeitraums hatte Ulm eine Bevölkerung von über 30.000. 1828 hatte die Zahl noch bei knapp 13.000 gelegen. Der sprunghafte Anstieg am Ende der sechziger Jahre war vor allem auf die nun verstärkt einsetzende Zuwanderung von Arbeitern zurückzuführen. Zur Sprache kommen schließlich auch die veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen der neuen Industriearbeiterschaft, wenngleich manche Kapitel wie die über Arbeitsbedingungen und Arbeiterfamilie doch sehr knapp ausgefallen sind. Vielleicht hätte man das reichhaltige Zahlenmaterial der angefügten Tabellen und auch andere Quellen zu diesen Aspekten doch noch etwas stärker in die Darstellung einbringen können.
Festzuhalten bleibt aber, dass Schaller eine sehr material- und aspektreiche Studie zu einem lokalen Industrialisierungsprozess vorgelegt hat, der nicht nur Ulmer Forschungslücken füllt. Schaller zeigt sehr anschaulich, dass auch die zweitgrößte Stadt des Königreichs Württemberg eigentlich keine Industrielle Revolution im Sinne eines qualitativen und quantitativen Entwicklungssprungs erlebte, sondern ihr Industrialisierungsprozess wie der des ganzen Königreichs eher evolutionäre Züge trug.
Hans-Werner Hahn, Jena