Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

David W. Lloyd, Battlefield Tourism. Pilgrimage and the Commemoration of the Great War in Britain, Australia and Canada, 1919-1939, Berg Publ., Oxford, New York, 1998, 251 S., geb., 65 $.

Im März 1915 ließ der Reiseveranstalter Thomas Cook nach zahllosen Anfragen in der „Times" bekanntgeben, man sei leider aufgrund französischer Vorbehalte bis zum Ende der Feindseligkeiten außerstande, Besichtigungstouren der Schlachtfelder anzubieten. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 aber setzte ein regelrechter Reiseboom auf das europäische Festland ein und die Besucher der Schlachtfelder in Frankreich und Flandern zählten nach Zehntausenden. Die Reiseveranstalter und voran Thomas Cook nutzten nun die Gelegenheit, Fahrten zu den Stätten anzubieten, die die Zeitungsberichte und die Gedanken der Menschen vier Jahre beherrscht hatten. Allein in englischer Sprache erschienen von 1919 bis 1921 wenigstens dreißig Reiseführer zu den Schlachtfeldern. David W. Lloyds überarbeitete Cambridger Dissertation untersucht im Vergleich mit Australien und Kanada den britischen Tourismus zu den Schlachtfeldern, Friedhöfen und Denkmälern des Ersten Weltkriegs zwischen 1919 und 1939.

Lloyd interessieren besonders die individuellen Reaktionen auf das Kriegserlebnis und die Formen seiner Verarbeitung. Der Autor betont, dass es sich bei diesen Reisen nicht um passive und nur rein touristische Aktivitäten handelte. Vielmehr waren die Reisenden davon überzeugt, an bestimmten Orten das Erlebnis des Krieges zu erneuern oder nachempfinden zu können. Auf besonderes Interesse stießen in den ersten Friedensjahren die zerstörten Landschaften und Städte. Hier ließ sich nicht nur der erbrachte Beweis deutscher Barbarei, sondern auch der eigene britische Heroismus entdecken. Auch wenn bei weitem nicht alle Interessierten aus finanziellen und aus zeitlichen Gründen in der Lage waren, die ehemaligen Kriegsschauplätze zu besichtigen, bildete diese Form der Auseinandersetzung mit dem massenhaften Sterben im Krieg ein wesentliches Element der neuen Massenkultur. Wem es verwehrt blieb, sich eine Reise nach Frankreich oder Belgien zu leisten, der besuchte - wie der Autor in einem Fallbeispiel analysiert - nationale Denkmäler wie den Londoner „Cenotaph" oder das neu eröffnete „Imperial War Museum".

Die Mehrzahl der Besucher bestand aus den ehemaligen Kriegsteilnehmern, die sich mit ihren Erinnerungen auseinandersetzen oder gefallene Kameraden ehren wollten, und den Hinterbliebenen der Opfer, die die Gräber ihrer Angehörigen aufsuchten, um endlich den Trauerprozess abschließen zu können. Dabei kennzeichnete eine Mischung aus Abscheu vor den Schrecken des Krieges und aus Stolz, an einem gewaltigen Ereignis Anteil gehabt zu haben, die Stimmung der früheren Soldaten. Im Gegensatz zu diesen quasi legitimen Besuchern der Schlachtfelder stilisierte die Presse die übrigen Reisenden oftmals zu sensationslüsternen Touristen, die angeblich das Vermächtnis der Toten entweihten. Dieses Stereotyp verlängerte gleichsam den Glauben an den Unterschied zwischen Front und Heimat über den Waffenstillstand hinaus. Allerdings macht Lloyd in dem gewinnbringendsten Teil seiner Studie deutlich, dass die Reisen von Touristen und von Betroffenen auch dazu beitrugen, die vielzitierte Dichotomie zwischen Front und Heimat teilweise zu relativieren. Letztlich bewegte beide Besuchergruppen ihre auf ähnliche Art und Weise vollzogene Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Die Besichtigung der Stätten des Massensterbens ließ nur wenige unberührt.

Nach zwei empirischen Kapiteln zum Kriegstourismus und einer Fallstudie, untersucht Lloyd eingehend, inwieweit das individuelle Reiseerlebnis in Akte des staatlichen Gedenkens eingebettet war. Die von Kriegervereinen wie der „British Legion" veranstalteten Besichtigungen der Schlachtfelder schlugen die Brücke zwischen privatem und öffentlichem Erinnern. Die Besucherscharen erlebten vor Ort ausgeklügelte Zeremonien, die die wachsende Anbindung des britischen Nationalismus an das Gedenken der Toten des großen Krieges offenbarten. Die Teilnahme an den Gedenkfeiern beschrieb man in einer Religiöses und Profanes verschmelzenden Sprache als Vereinigung der britischen Nation und der Völkerfamilie des Empires. Die einflussreiche Deutung des Krieges als Geburtshelfer der Nation kann der Verfasser gerade mit Hilfe eines das Buch beschließenden asymmetrischen Vergleichs zum australischen und kanadischen Kriegstourismus überzeugend belegen. Insbesondere in Australien avancierte die Auseinandersetzung mit dem Erbe der „Anzac"-Soldaten gleichsam zum Gründungsmythos eines eigenen, doch eng mit den Banden des Britischen Empires verknüpften Nationalismus. Ein derartig nationalistisch, religiös und moralisch aufgeladenes Kriegsbild erschwerte von vornherein oppositionelle Deutungen des Krieges. Schon die reine Anzahl der Kriegstoten barg für die meisten Zeitgenossen die Botschaft, dass deren Tod nicht umsonst gewesen sein dürfe.

Insgesamt gelingt es David Lloyds Buch zahlreiche Aspekte der individuellen und der kollektiven Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Großbritannien zu illustrieren. Allerdings leidet die Arbeit darunter, dass der Autor die Reiseberichte zu wenig quellenkritisch verwendet und die Veröffentlichungen der Presse eher referiert als analysiert. Der überwiegend narrative Charakter des Buches wird dadurch verstärkt, dass Lloyd in den zahlreichen, von ihm angeschnittenen historiographischen Debatten zum Ersten Weltkrieg selten eindeutig Position bezieht und sich in der Regel auf ein lavierendes „sowohl/als auch" zurückzieht. Zudem ist das Fehlen eines eigentlichen Schwerpunktes bedauerlich. Die Untersuchung des Kriegstourismus macht nur zwei von den fünf Kapiteln des Buches aus, und Neues steht unvermittelt neben vielem Bekannten.

Sven Oliver Müller, Bielefeld



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