Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Alex King, Memorials of the Great War in Britain. The Symbolism and Politics of Remembrance, Berg Publ., Oxford/New York 1998, 274 S., geb., 65 $.

Auf dem Weg von der Londoner Liverpool Street Station zum nördlichen Stadtrand passiert man mit dem Nachtbus wenigstens ein halbes Dutzend lokaler Denkmäler, die an die Opfer des Ersten Weltkrieges erinnern. In Orten wie Enfield oder Walthamstow stehen an markanten Kreuzungen oder Plätzen Kriegerdenkmäler, die die Toten der jeweiligen Gemeinde verzeichnen. Im Ersten Weltkrieg verloren mehr als doppelt so viele Briten ihr Leben wie im Zweiten Weltkrieg. Die Erinnerung an seine Toten bildete nach 1918 - und in gewisser Hinsicht bis heute - ein wesentliches Element der politischen Kultur Großbritanniens. Alex Kings Arbeit untersucht den Prozess der politischen und kulturellen Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, lokalen Institutionen und konkurrierenden Konzepten, durch den die Menschen in Großbritannien versuchten, den Krieg mittels des Baus von Denkmälern symbolisch zu deuten.

Die Mehrheit der Monumente bediente sich einer konventionellen Symbolsprache in Form von traditionell stilisierten Figuren, schlichten Obelisken oder Kreuzen. Die häufigen Anleihen bei antikisierenden oder gotizistischen Stilelementen scheinen zunächst den Befund Jay M. Winters zu belegen, der - gegen Paul Fussel - auf den Fortbestand herkömmlicher Deutungsmuster und Werte als Folge des Ersten Weltkrieges verwiesen hat. Allerdings kann King überzeugend nachweisen, dass realiter keine scharfe Antinomie zwischen „traditionellen" und „modernen" Formen der Gestaltung bestanden hat. Denn erst durch die Adaption, die Interpretation oder die Umdeutung des bestehenden Formenkanons - so die Hauptthese des Autors - verliehen die Akteure den steingewordenen Symbolen des großen Krieges deren jeweilige Bedeutung. In Abgrenzung von Clifford Geertz betont King, dass Symbole und symbolische Handlungen selbst weder Bedeutungen transportieren noch eine einheitliche Überzeugung schaffen. Erst in Folge eines öffentlichen diskursiven Prozesses, der den unterschiedlichsten Gruppen und Vorstellungen Raum bot, ihre oftmals widerstreitenden Interpretationen auszudrücken, erhielten die - an sich bedeutungslosen - Denkmäler ihre Deutungsmacht. Auf der Grundlage dieser Prämisse kann der Verfasser dann im Einzelnen einleuchtend zeigen, warum etwa der formal originelle und immer wieder kopierte Londoner „Cenotaph" eben durch seine schlichte Abstraktheit anschlussfähig geworden ist für zahllose Interpretationen und Emotionen, die mit konventionellen Monumenten schwerer verbunden werden konnten.

Die Errichtung eines Kriegerdenkmales stellte eine genuin politische Angelegenheit dar, in die lokale und nationale Institutionen, die Presse, politische Parteien und Interessengruppen einbezogen waren. Doch diejenigen, die der Toten und ihres Vermächtnisses gedachten, waren weit davon entfernt, über die angemessene Form des Erinnerns Einvernehmen zu erzielen. Denn das Wesen der Politik ist der Konflikt und bei der Konzeption der Denkmäler trafen widerstreitende Gruppen und Ideen aufeinander und stritten um die „richtige" Erinnerung. Die Akteure aller politischen Richtungen rekrutierten die Gefallenen in ihren politischen Auseinandersetzungen. Gerade weil zum einen das noch frische Kriegserlebnis tiefgreifende Emotionen auslöste, und man anhand der Monumente um die eigenen Werte und Britanniens nationale Zukunft stritt, und weil zum anderen die Ikonographie der Denkmäler für die verschiedensten Interpretationen offen blieb, polarisierte deren Bau oftmals die Öffentlichkeit. Hinzu kam, dass der Tod auf dem Schlachtfeld immer auch als Ausdruck staatsbürgerlicher Gleichheit erinnert wurde. Diesen Aspekt der durch den gemeinsamen Kampf eröffneten Partizipationsverheißung betonten vor allem minderpriviligierte Gruppen, wie die Mitglieder der Arbeiter- oder der Frauenbewegung, während die Regierung eher danach trachtete, den sozialharmonischen Charakter der Kriegserinnerung herauszustreichen. Einigkeit herrschte allenfalls darin, den Krieg eher in moralischen, statt in militärischen Kategorien zu erinnern. Das Vermächtnis der Toten deutete man bevorzugt als ethischen Triumph über das Böse, der zum Garant des Friedens geworden war. Auch wenn die Auseinandersetzungen auf lokaler und auf nationaler Ebene oft nicht zu einem Einvernehmen über die Ausgestaltung der Denkmäler führten, bildeten diese Debatten doch die Grundlage eines auf gemeinsamen Regeln beruhenden Kommunikationsprozesses.

Der Gesamteindruck von Alex Kings vorzüglicher Studie wird dadurch etwas geschmälert, dass die Grenzen des diskursiven Prozesses nicht klarer umrissen werden. Die Bedeutung der Denkmäler wird ohne hinreichende Gewichtung auf lokaler und nationaler, auf politischer und auf kultureller Ebene und für Eliten wie für Arbeiter untersucht, wobei sich der Eindruck aufdrängt, dieser Prozess habe letztlich das gesamte gesellschaftliche Leben umfasst. Vor allem aber ist es bedauerlich, dass der Autor - wie er selbst einräumt - die vergleichende Perspektive beinahe vollständig ausblendet. Gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Bewertung des Krieges und des Friedens in der kollektiven Erinnerung nach 1918 wäre ein asymmetrischer Vergleich mit den Denkmalsdebatten in Deutschland sehr fruchtbar gewesen. So nimmt King keine der einschlägigen deutschsprachigen Arbeiten (etwa die von Alings, Tacke oder Koselleck) wahr.

Insgesamt aber zeichnet sich die Untersuchung durch drei Vorzüge aus: Erstens kann King im Anschluss an die anhaltende Debatte über den historischen Ort des Ersten Weltkriegs deutlich machen, wie die Denkmäler des großen Krieges zu einem Modell für die Erinnerung an die nachfolgenden Kriege wurden. Die Debatten über die Denkmäler verankerten den Ersten Weltkrieg auch nach 1918 im kollektiven Gedächtnis und in der politischen Ästhetik Großbritanniens. Zweitens wird die Vieldeutigkeit komplexer Symbole scharf herausgestrichen und gleichzeitig gezeigt, welche Rolle kommunikative Verfahren bei der Vermittlung von Bedeutung einnahmen. Ungeachtet aller politischer Konflikte bildeten die Denkmalsdebatten ein zentrales Element im niemals abgeschlossenen Prozess des „Nationbuilding". Drittens schließlich und vor allem leistet das Buch insofern einen wichtigen Beitrag zur laufenden Erforschung des Ersten Weltkriegs, als es die schwierige Aufgabe meistert, den Raum zwischen seiner Politik- und seiner Kulturgeschichte zu vermessen.

Sven Oliver Müller, Bielefeld



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