Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Kirsten Heinsohn, Politik und Geschlecht. Zur politischen Kultur bürgerlicher Frauenvereine in Hamburg, Verlag Verein für Hamburgische Geschichte, Hamburg 1997, 497 S., brosch., 48 DM.

Bereits 1854 nannte der Historiker Wilhelm Heinrich Riehl, ein kulturkritisch konservativer Zeitgenosse, der gewiss nicht zur Speerspitze der frühbürgerlichen Frauenbewegung gezählt werden kann, den „barmherzigen Verein" eine gerade noch „standes- und wesensgemäße" Betätigung für Frauen des Bürgertums. Wohlweislich wollte Riehl die Entfaltung weiblicher Aktivitäten im Verein nur für alleinstehende Frauen und nur als allerletzte Möglichkeit gelten lassen: für jene, denen eine Existenz als „alte Tante" in der Familie verwehrt blieb und die auch nicht in ein Kloster oder in eine Kongregation eintreten mochten. Der Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen hatte den bürgerlichen Frauenverein als soziales Zwitterwesen zwischen Familienersatz und säkularisierter Mildtätigkeit entdeckt. Fünfzig Jahre später gehörten bürgerliche Frauenvereine, deren Aktivitäten, Interessen und Ziele inzwischen eine enorme Vielfalt aufwiesen, im Großen und Ganzen zur etablierten politischen Kultur, sofern sie sich offener Parteipolitik enthielten und nicht allzu radikal für das Frauenstimmrecht fochten.

Eine Reihe von Studien über Hannover (Nancy R. Reagin), Frankfurt (Christina Klausmann) oder Göttingen (Traudel Weber-Reich) konnten bereits zeigen, wie die bürgerlichen Frauenvereine ihren durchschlagenden Erfolg auf kommunaler Ebene entfalten konnten. Sie verdankten ihn nicht zuletzt einem intakten Netzwerk aus persönlichen Beziehungen, Freundschaften und Verwandtschaften im Bürgertum und innerhalb der politischen Klasse der Honoratioren. Auch verstanden es die Aktivistinnen, Persönlichkeiten für die Ziele des Vereins zu gewinnen, die über Patronagemacht verfügten.

Die vorliegende Dissertation von Kerstin Heinsohn fügt den lokalgeschichtlichen Forschungen zur weiblichen bürgerlichen Vereinskultur einen weiteren Mosaikstein hinzu. Mit einem Anspruch auf Vollständigkeit rekonstruiert die Autorin auf der Grundlage von Adressbüchern für die Jahre 1852 bis 1918 und vornehmlich aus den Akten der politischen Polizei das von Frauen des Bürgertums aufgebaute und getragene Vereinswesen des Stadtstaates Hamburg in seiner ganzen Vielfalt. Es reichte, wie andernorts auch, von den frühesten und (quantitativ bedeutendsten) Gründungen sozialer Frauenvereine über eine Vielzahl von Bildungsvereinen und berufständischen Organisationen bis zu den allgemeinen Frauenvereinen. Auch wenn bereits im Vormärz und 1848 in der Revolution eine Reihe von Frauenvereinen das Licht der Welt erblickten, leiteten eigentlich erst die „Gründerzeit" und schließlich die 1890er Jahre eine Hochphase der Vereinsgründungen ein. Die systematische Auswertung der Adressbücher läßt eine Topographie der Frauenvereine erwarten, die über Jahrzehnte anschaulich Aufschluss hätte geben können über die Verteilung bzw. Konzentration von Vereinen in bestimmten Stadtvierteln, also über die weibliche Vereinskultur im Prozess der Urbanisierung. Leider sucht man sie vergeblich.

In ihren allgemeinen Überlegungen zur weiblichen bürgerlichen Vereinskultur verlängert die Autorin gewissermaßen eine bekannte These für die historische Frauen- und Geschlechterforschung: In der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts habe der Verein die fehlende politische Partizipation des weiblichen Teils des Bürgertums im Grunde bis 1918 ersetzt. Die bürgerliche Vereinskultur wurde aber nicht nur als Surrogat für die lange verweigerte Teilhabe an der politischen Macht, sondern ebenso als Selbstmobilisierung der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin begriffen. Auch hier war der Stellenwert der bürgerlichen Frauenvereine nicht zu unterschätzen. Heinsohn kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass die Frauenvereine keine weibliche Gegenkultur oder Subkultur begründeten und pflegten, sondern sowohl im Selbstverständnis ihrer Aktivistinnen wie auch aufgrund des Profils ihrer Tätigkeiten ganz der bürgerlichen – und im Falle Hamburgs – bürgerlich-liberalen politischen Kultur verhaftet blieben. Dennoch erlangten die bürgerlichen Frauenvereine auf mittlere Sicht eine spezifische Bedeutung: Sie boten ihren Aktivistinnen zum einen die Möglichkeit, eine weibliche bürgerliche Identität jenseits der Ökonomie auszubilden. Zum anderen eröffneten und erweiterten die Vereine den Zugang zu „standesgemäßen" Berufen, und sie bildeten selbst eine wichtige Wegmarke der Professionalisierung.

Eher implizit plädiert die Studie gegen die Konstruktion hermetisch abgeschlossener Geschlechtersphären und für eine Perspektive, die ich „gender bargaining" nennen möchte: Bezogen auf die Erosion des männlichen Bildungsprivilegs und die langsame Öffnung der Gymnasien und Universitäten für Frauen könnte man Eric Hobsbawm fortschreiben, der zu bedenken gab: Hinter jedem bürgerlichen Mädchen, das studierte, stand (fast immer) ein Vater, der seine Einwilligung dazu gab und die Kosten trug.

Auch die Aktivistinnen in den Frauenvereinen standen nicht vollkommen ohne männliche Unterstützung da. Doch Konturen gewann der Konsens oder das, was sich (plötzlich) anscheinend von selbst verstand, an den Rändern: dort, wo diese Unterstützung (noch) verweigert wurde.

Karin Hartewig, Göttingen/Erfurt



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