Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Hans Ulrich Gumbrecht, In 1926. Living at the Edge of Time, Harvard University Press, Cambridge, Mass./London 1997, XV, 505 S., brosch., 25,95 $.

Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat mit seinem Buch ein dezidiert postmodernes Werk vorgelegt. Da die "großen Erzählungen" nicht mehr in der Lage seien, der Geschichte Kohärenz und Sinn zu verleihen, da das historische Subjekt – das individuelle wie das kollektive - nicht mehr als weitgehend eigenständiger Akteur verstanden werden könne, müsse man sich nun jenen Netzwerken aus Diskursen und anderen Elementen der "Realität" zuwenden, in denen sich die Subjekte bewegten und von denen ihre Handlungen gelenkt würden. Der Verfasser übernimmt nicht die Extremposition des "linguistic turn", die "Realität" ganz in Diskursen aufzulösen. Gumbrecht räumt auch ein, dass es keinen unmittelbaren Zugang zu dieser "Realität" gebe, sie vielmehr als Konstruktion zu verstehen sei. Er zieht dann jedoch nicht die notwendige methodische Konsequenz, nämlich ein theoretisches Modell zu entwickeln, das bewusst selektiv ist. Stattdessen lässt er sich auf ein illusionäres Vollständigkeitsideal ein: Er will, so gibt er unter Berufung auf phänomenologische Ansätze an, die Welt des Jahres 1926 möglichst intensiv erlebbar machen, insbesondere im Sinn von visuellen und anderen Oberflächenreizen. Dazu werden als Quellen solche "Bücher, Objekte und Ereignisse" herangezogen, die im Jahr 1926 ein – nicht näher spezifiziertes - überdurchschnittliches Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erregt haben. Um die ganze Welt geht es freilich nicht, aber immerhin doch um einen großen, durch die Sprachkenntnisse des Autors definierten Raum, nämlich um Mittel- und Westeuropa und beide Teile Amerikas. Das Jahr 1926 ist deshalb gewählt, weil ihm kein signifikantes historisches Ereignis zugeschrieben werde und es damit als repräsentativ für die Nachbarjahre gelten könne. Gumbrecht unterstreicht aber, dass er seinen Ansatz ebenso auch etwa für das Jahr 926 hätte erproben können. Wie diese Äußerung noch einmal deutlich macht, gilt sein Interesse nicht in erster Linie den besonderen historischen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, wie man beim Blick auf den Titel zunächst vermutet (und hofft), sondern dem Ausprobieren einer neuen, als paradigmatisch vorgestellten Darstellungsform von Geschichte. Dieser Versuch ist gründlich misslungen, und das liegt nicht nur an den wolkigen theoretischen und methodischen Vorgaben.

Um die "Simultaneität" herzustellen, auf die sein Verfahren anstelle einer üblichen Erzählstruktur zielt, ordnet Gumbrecht sein Material in dreifacher Weise an: zunächst unter Stichworten wie "Airplanes", "Dancing" und "Jazz", aber auch "Murder" und "Strikes", dann unter abstrakteren "Codes", z.B. "Individuality vs. Collectivity" oder "Male vs. Female", denen die "Codes Collapsed" folgen, etwa "Individuality = Collectivity (Leader)". Die Einträge sind jeweils etwa zehn Seiten lang; sie bestehen aus inhaltlichen Erläuterungen, Hinweisen auf die herangezogenen Quellen (und Literatur) und Verweisen auf verwandte Einträge. Die Anordnung ist alphabetisch, anfangen kann man überall und sich dann weiter führen lassen. Auffallend ist, dass sich in der fünfhundertseitigen Bleiwüste kein einziges Bild findet; Gumbrecht begründet diesen expliziten, angesichts seines Darstellungsziels schon sehr verwundernden Verzicht damit, testen zu wollen, wie weit man allein mit sprachlichen Mitteln kommen könne. Er beschränkt sich im Übrigen nicht auf die reine Deskription und die Collage von Textstücken, sondern wertet und deutet durchaus – beides zusammen ist aber auf dem jeweils knappen Raum nicht wirklich zu leisten.

Was erfahren wir nun, wenn wir beispielsweise mit dem Eintrag "Murder" beginnen, von dem man die Thematisierung sowohl politischer als auch anderer Formen des Mordes, etwa des die zeitgenössischen Künstler faszinierenden "Lustmordes" erwartet? Zunächst, unter Verweis auf mehrere deutsche und andere Fälle, dass die Verantwortung für die Tat mehr und mehr vom Mörder selbst auf dessen Sexualität oder die Gesellschaft allgemein verlagert wird und sich darin eine "Krise der Wahrheit" offenbare, zugleich aber auch "various crises of Western culture", wie sie in der Debatte um den berühmten Haarmann-Fall zu Tage träten. Auch in den Fememordprozessen stoße man auf die allgemeine Krise, aber nicht wegen der an einer Aufklärung der Fälle nicht wirklich interessierten Richter und Behördenvertreter, sondern weil die Nachfolgeorganisationen der Freikorps (Gumbrecht spricht fälschlicherweise von den schon 1920 aufgelösten Freikorps selbst) aufgrund ihrer labyrinthischen Strukturen nicht in der Lage gewesen seien, die Täter in ihren eigenen Reihen zu identifizieren. Dann geht es weiter zu Kafka, der die allgemeine "internal confusion of public institutions" am prägnantesten auf den Punkt gebracht habe, und schließlich wird Hitler zitiert, der im Gegensatz zu den Nachfolgern der Freikorps nicht auf eine Attentatsstrategie gesetzt, sondern einen umfassenden politischen Vernichtungsfeldzug gegen die Weimarer Republik geplant und als charismatischer Führer jene "synthesis of individuality and collectivity" verkörpert habe, die weithin als Lösung der allgemeinen Krise erschienen sei.

In dieser Mischung von Allgemeinplätzen, Halbinformationen und wenig anregenden Beobachtungen geht es weiter. In den Einträgen zu Individualität und Kollektivität erfahren wir nicht viel mehr, als dass Vorstellungen von kollektiver Ordnung immer mehr in den Vordergrund traten, auf der Rechten aber diffus blieben, dass die Figur des Diktators auf der Bühne und in der Politik immer prominenter wurde, und dass etwa das Fließband und die neuen Tänze, in denen man sich im Rausch verlor, zeigten, wie freudig das Verschwinden des Individuums im Kollektiv begrüßt worden sei. Das hat man in den einschlägigen Studien zum politischen Denken, angefangen bei Sontheimers Buch von 1962, oder den älteren und jüngeren Arbeiten zur Kultur Weimars schon präziser gelesen. Auch die weniger 'politischen' Einträge sind eine Enttäuschung, etwa zu "Airplanes" (wo man kein Wort zum Zeppelin findet und nicht viel mehr erfährt, als dass die Fliegerei allgemein Faszination auslöste, ihre militärische Vergangenheit weiterwirkte und sie nun auch ökonomisch genutzt wurde) oder "Male vs. Female" (wo wiederum nur Bekanntes wiederholt wird: die neuen Berufsmöglichkeiten für Frauen, die gleichtzeitig fortwirkenden Stereotype der "Heiligen" und der "Hure"). Enttäuschend ist nicht nur an der Oberflächlichkeit, mit der das Material präsentiert wird, sondern auch, dass der Verfasser, erstaunlich für einen Literaturwissenschaftler, den unterschiedlichen Genres seiner Texte nicht angemessen Rechnung trägt. So vergleicht er etwa unter dem Eintrag "strike" Stresemanns Rede "Student und Staat" vor dem "Verein Deutscher Studenten" mit einer Passage aus Hitlers "Mein Kampf", um daraus zu folgern, dass Hitler die Wirkungen eines Streiks mit größerer analytischer Schärfe erfasst habe, während aus Stresemann nur Arroganz gegenüber den Arbeitern spreche – da kann sich beim Leser nur Ratlosigkeit einstellen.

Gumbrechts Buch mag auf das eine oder andere vergessene oder weniger bekannte literarische Werk aufmerksam machen. Das intensive Erleben des Jahres 1926 will sich bei seiner Lektüre nicht einstellen. Häufig ist es langweilig und manchmal ärgerlich. Das kritische Potenzial der Postmoderne hat bessere Formen der Präsentation verdient.

Dirk Schumann, Atlanta



© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 2000