Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Alon Confino, The Nation as a Local Metaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory, 1871-1918, The University of North Carolina Press, Chapel Hill 1997, 280 S., paperback, 19.95 $.

Die Forschungen zu Fragen des Nationalismus und der Nationsbildung haben in den letzten zehn Jahren nicht nur eine deutliche Intensivierung erfahren, vielmehr hat sich auch ein wichtiger Perspektivenwechsel vollzogen. Untersuchungen zu Programmen und Organisationen der verschiedenen Nationalbewegungen und zum Prozess politisch-gesellschaftlicher Nationsbildung sind zurückgetreten hinter die Probleme der kulturellen Nationsbildung. In den neuen Arbeiten geht es verstärkt um die Frage, wie das nationale Bewußtsein über Symbole, Rituale und kollektive Erinnerung kulturell geformt wurde und den neuentstandenen politischen Ordnungen somit Legitimation durch Geschichte verliehen wurde. Gerade für die Zeit des Deutschen Kaiserreichs stellen sich in diesem Zusammenhang neue, lange zu wenig beachtete Fragen. Über die herrschaftspolitische Funktion des neuen Reichsnationalismus und seine Folgen ist viel gearbeitet worden. Forschungsdefizite bestehen jedoch noch bei den Fragen nach der Entstehung, den Mechanismen und Trägerschichten dieses Nationalismus. Vor allem aber bleibt noch genauer zu klären, in welchem Verhältnis neue nationale Identitätsangebote und alte regionale und lokale Bindungen standen. Genau hier setzt die verdienstvolle Arbeit Confinos an. Am Beispiel des Königreichs Württemberg untersucht der Verfasser, welche Wege der kulturellen Nationsbildung nach 1871 beschritten wurden und wo die Gründe für den Erfolg, beziehungsweise Mißerfolg bestimmter Ansätze lagen.

Württemberg scheint deshalb ein geeignetes Forschungsfeld zu sein, weil hier vor 1870 die Spannweite der Meinungen über die politische Zukunft Deutschlands besonders groß war und die national motivierte Spaltung der württembergischen Innenpolitik noch weit in das neue Kaiserreich hineinreichte. Im ersten großen Untersuchungsabschnitt zeigt Confino am Beispiel des Sedantages sehr anschaulich, wie schwierig es auch nach der Gründung des Kaiserreichs war, nationale Identitätspostulate mit den regionalen und lokalen Identitäten in Einklang zu bringen. Die in der "Deutschen Partei" vereinten kleindeutschen Liberalen wollten über die Feiern am Sedantag ihre bisherige Politik rechtfertigen, die politische und gesellschaftliche Position des kleindeutsch orientierten Bürgertums festigen und zugleich die Stellung ihrer politischen Gegner, der Demokraten, Katholiken und württembergischen Konservativen, untergraben. Der Sedantag war jedoch wenig geeignet, die württembergische Bevölkerung an das neue Reich heranzuführen. Er entfachte vielmehr die alten Debatten der Reichsgründungszeit aufs Neue und wies somit keinen Weg, um die historische Vielgestaltigkeit der deutschen Nation in die neue politische Einheit zu integrieren. Die Entschärfung der Konflikte zwischen lokal-regionalem und nationalen Bewußtsein gelang, wie Confino im zweiten Teil überzeugend herausarbeitet, erst mit einem neuen Konzept der neunziger Jahre: der Heimatidee. Neue ökonomische, soziale und politische Entwicklungen, nicht zuletzt das Hineinwachsen von württembergischen Demokraten und Katholiken in das Reich und das Schwinden der alten Gegensätze zwischen groß- und kleindeutscher Richtung, bildeten die Voraussetzungen für die Konzeption neuer nationaler Identitätsvorstellungen. Die Heimatidee wurde nun zur entscheidenden Mittlerin zwischen dem Lokalen und dem Nationalen. In ihr verschmolzen nationale, regionale und lokale Identitäten. Die Heimatidee vermittelte aber nach Ansicht Confinos nicht nur zwischen diesen Ebenen. Sie stieg seit den neunziger Jahren zur eigentlichen Repräsentantin der Nation auf und schuf durch die Verbindung von lokaler und nationaler Erinnerung eine "immagined community", die auf einer symbolischen Ebene die Differenzen zwischen Regionen, Religionen, Parteien, Klassen und Geschlechtern überwölbt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Tradition und Moderne vermittelt und den Deutschen auf diese Weise ein weitreichendes Identitätsangebot vorgelegt habe.

Am Beispiel des Umgangs mit der Geschichte, der Natur und der Ethnographie zeigt Confino, wie das württembergische Bürgertum als wichtigste Trägerschicht die neue lokal-nationale Erinnerungskultur erfolgreich etablierte. Besonderes Gewicht legt der Verfasser hierbei auf die seit 1890 verstärkt eingerichteten Heimatmuseen, die Heimatdichtung und die neuen Inhalte der Schulbücher. In seinem letzten großen Abschnitt bemüht sich Confino schließlich um den Nachweis, dass sich das neue Heimatkonzept mit seinem großen integrativen Potential im Kaiserreich nicht auf Württemberg beschränkte, sondern in ganz Deutschland zum wichtigsten und erfolgreichsten Element kultureller Nationsbildung wurde. Bestätigt sieht Confino dies nicht zuletzt in den populären Landschafts- und Stadtansichten der Jahrhundertwende und der Heimat-Ikonographie der Kriegspropaganda. Im Unterschied zu Celia Applegate, die die Heimatidee als regionales und lokales Phänomen ansieht und ihr nur eine Vermittlungsfunktion zwischen lokaler und nationaler Identität zuweist, geht Confino ein wesentliches Stück weiter. Seine entscheidende Aussage lautet "that Germans imagined nationhood as a form of localness" (S. 188). Im europäischen Vergleich erscheint dieses Konzept nationaler Identität durchaus als etwas Besonderes. Dennoch lehnt es Confino vehement ab, dies als Bestätigung der These von einem deutschen Sonderweg anzusehen. Die Konstruktion nationaler Identität über das Heimatkonzept war vielmehr ein Ausdruck von Modernität und verlief nach Ansicht des Verfassers folglich in den normalen Bahnen der europäischen Entwicklungen.

Zweifellos ist es dem Verfasser mit dieser Arbeit gelungen, der Diskussion über die deutsche Nationsbildung neue Impulse zu geben. Er zeigt in diesem Zusammenhang auch, wie erfolgreich das Bürgertum mit der Entwicklung und Verbreitung der Heimatidee auf dem Felde der kulturellen Nationsbildung operierte. Dennoch bleiben offene Fragen und kritische Einwände. So wird letztlich zu wenig untersucht, wie sich die neuen Konzepte tatsächlich auf den Alltag der Bevölkerung auswirkten und welche Bedeutung ihnen für den Einzelnen zufiel. Hierzu müssten andere Quellenbestände ausgewertet werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob man den Einfluß, den die staatliche Seite auf die neuen Konzepte nahm, nicht doch stärker hinterfragen und auch den Wirkungen der Heimatidee über 1918 hinaus nicht etwas mehr Beachtung schenken müsste. Schließlich müsste man vielleicht auch noch stärker danach fragen, inwieweit die von der Heimatidee geleistete Verkoppelung von lokalen, regionalen und nationalen Identitäten nicht schon lange vor 1870 gerade in Regionen wie Württemberg, etwa in den ehemaligen Reichsstädten oder den kleineren Herrschaften, in besonderem Maße verankert war und diese Formen vormodernen Nationalismus nicht wichtige Grundlagen für die Identitätsbildung des Kaiserreichs lieferten. All das sollte aber die großen Verdienste, die sich Confino mit dieser Studie über die deutsche Nationsbildung erworben hat, nicht schmälern..

Hans-Werner Hahn, Jena



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