Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Heidi Behrens-Cobet, Abschiede vom Proletariat? Lebenslagen und Bildungsgeschichten ehemaliger Mitglieder der Essener SAJ (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn), Verlag J.H.W. Dietz/Nachf., Bonn 1996, 288 S., geb., 49,80 DM.

In ihrer erziehungswissenschaftlichen Dissertation reflektiert Heidi Behrens-Cobet ihre langjährige Beschäftigung mit der Arbeiterjugendbewegung und (arbeiter)bildungsgeschichtlichen Forschungsfragen. Herausgekommen ist eine wichtige Studie zur subjektiven bzw. individuellen Seite von Bildungsgeschichte, die meist strukturgeschichtlich bearbeitet oder in Übernahme kollektiver Deutungsmuster aus der Arbeiterbewegung klassen- oder schichtenspezifisch interpretiert wird.

Auf der Grundlage von Interviews werden die Lebensgeschichten früherer Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterjugend Deutschlands (SAJ) im sozialdemokratischen Milieu von Essen rekonstruiert. Einen großen Teil des Buches machen neun ausführlich mit Interviewzitaten dargestellte und analysierte Lebens- und Bildungsgeschichten Essener SAJ-Mitglieder (von 22 insgesamt verarbeiteten Biographien) aus. Sie behandeln die unterschiedliche Bedeutung von Bildung in den Lebensläufen und dienen als Beleg und Illustration der Untersuchung.

Zunächst skizziert die Autorin aber die Lebensbedingungen von Arbeiterjugendlichen in der Zwischenkriegszeit. Diese Zeit war gerade im Ruhrgebiet durch dauernde wirtschaftliche und soziale Not und wiederkehrende politische Krisen geprägt. Neben dem eigentlichen Thema ermöglichen die Schilderung der Lebenssituation der organisierten Arbeiterjugendlichen und die Zitate aus den verwerteten Interviews einen Einblick in die Lebenslage der Arbeiterschaft, der in seiner Konkretheit manche allzu abstrakte strukturgeschichtliche Darstellung zurechtrückt.

Bildungschancen waren in hohem Maße sozial ungleich, und von der organisierten Arbeiterjugend wurde trotz allen Bildungsstrebens vor allem das Gymnasium als die Schule der Bürgerlichen eingeschätzt. Ein Aufstieg dorthin galt mindestens als Bedrohung des Klassenstandpunktes. Heidi Behrens-Cobet stellt in der Sozialdemokratie einige Widersprüchlichkeiten fest wie eben die partielle Selbstgenügsamkeit (auch der weltlichen Schulen) und die ambivalente Haltung gegenüber den weiterführenden Schulen.

Nach der vorübergehenden Nachkriegskonjunktur waren im Ruhrgebiet während der Inflation, der Ruhrbesetzung und dann angesichts erster erheblicher Umstrukturierungen in der Ruhrindustrie und schließlich der sich verschärfenden Wirtschaftskrise die Möglichkeiten, eine Lehr- oder Arbeitsstelle zu bekommen ausgesprochen schlecht. Die Varianz der Lebenswege der organisierten Arbeiterjugendlichen war groß, der stabile familiäre Hintergrund und das Eingebundensein in eine sozialdemokratische Solidargemeinschaft verhinderten aber wohl insgesamt Resignation und Verzweiflung.

Besonderes Interesse widmet Heidi Behrens-Cobet der Frauenfrage und der Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Familienstrukturen in der wegen ihrer koedukativen Praxis vielfach von reaktionären Politikern und Moralaposteln angegriffenen SAJ. Hier wird belegt, welche Schwierigkeiten eine alternative Praxis bereitete und wie stark man auch in der Sozialdemokratie in alten Rollenklischees gefangen blieb. Allerdings führen die Einschätzungen der Autorin nicht immer zu einer gerechten Beurteilung des mit der Überwindung von Geschlechterrollen experimentierenden Verbandes und vernachlässigen die damaligen strukturellen Gegebenheiten und die Langsamkeit des Wandels.

Anschließend werden Anspruch und Wirklichkeit proletarischer Bildungsarbeit bei der SAJ und ihre Umsetzung am Beispiel der Lebenswege der befragten Essener analysiert. Konkret werden hier die schwierigen Auseinandersetzungen mit der sich durchsetzenden kommerziellen Massenkultur und neuen Medien geschildert. Wenn in mancher Beziehung ein Scheitern der Bestrebungen der SAJ konstatiert wird, so werden dabei aufgrund der Konzentration auf bildungsgeschichtliche Fragen die zahlreichen strukturellen Restriktionen eher vernachlässigt, neben den immer wieder erwähnten materiellen besonders die kulturelle Hegemonie anderer politischer Lager und des antidemokratischen Denkens. Ebenso bleiben der experimentelle Charakter der Praxis der sozialdemokratischen Arbeiterjugendbewegung, was notwendigerweise mit Gefahren des Scheiterns verbunden war, und die Kürze des auf die Weimarer Repulbik beschränkten Untersuchungszeitraums unberücksichtigt.

Ausdrücklich wird die SAJ „unbeschadet aller Kontroversen mehrheitlich als Erziehungs- und Kulturbewegung verstanden, weniger als politische Kampforganisation" (S. 112), ihr ab und zu erwähnter Charakter als politische Organisation an der Seite der Sozialdemokratie und die sich daraus ergebende Praxis wird nicht systematisch verfolgt. Damit wird auch der für bildungsgeschichtliche Fragestellungen wichtige Doppelcharakter der Arbeiterjugendbewegung und -organisationen als Erziehungs- und Kampforganisation ausgeblendet: Wurde nicht recht praktisch in den politischen Kämpfen der Weimarer Zeit gelernt, führte nicht immer wieder erfahrene Diskriminierung auch zu einem Lernergebnis, waren nicht Reflexionen über unterschiedliche materielle Lagen wichtige Erfahrungen?

Durch ihre regionale Fallstudie sieht Heidi Behrens-Cobet schließlich anknüpfend an ihre Titelfrage nach dem Abschied vom Proletariat die These von der in den 1920er Jahren beginnenden „Auflösung des (zuvor hermetischen) Arbeiterbildungs- und Kulturzusammenhangs" (S. 149) bestätigt. Hierbei wird aber wohl die Konflikthaftigkeit der Integration in die Weimarer Institutionen (vgl. Franz Walter) unterschätzt. Gerade die in den Interviews sichtbare langfristige Prägung der Zeitzeugen und deren Lebenswege über 1933 und 1945 hinaus sollten zu vorsichtiger Interpretation mahnen. Auch finden sich die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der SAJ, die nur kurz angesprochen werden (S. 111 f.), in der Untersuchung nicht wieder - so hieß es doch in einem nicht unbedeutenden Teil der SAJ am Ende der Weimarer Republik: „Republik das ist nicht viel - Sozialismus ist das Ziel!"

Ferner war die sozialdemokratische Solidargemeinschaft wohl nie ganz so miefig und eng, wie aufgrund recht rigider Äußerungen aus der Arbeiterbewegung immer wieder vermutet wird. Wissenschaftliche Annahmen zur Existenz einer sozialdemokratischen Solidargemeinschaft und eines in sich relativ geschlossenen sozialdemokratischen Lagers sind auch nie davon ausgegangen, dass Sozialdemokraten nicht ins Kino gingen, SAJler wirklich immer auf Nikotin und Alkohol verzichteten und Sozialdemokraten nicht im Alltag des „Dritten Reiches" das eine oder andere Zugeständnis machten, weil Held zu sein auch tödlich sein konnte. Individuelle Bildungs- und auch Aufstiegswünsche ließen sich mit der Klassenperspektive verbinden. Viele alte SAJ-Mitglieder bewahrten sich schließlich ja „Reste eines Kollektivbewußtseins" und ein Bewusstsein der „Zugehörigkeit zu Fragmenten der alten Solidargemeinschaft", wie die Autorin selbst zugesteht (S. 227). Ohne es ausdrücklich zu sagen, belegt die Untersuchung, dass die Wirklichkeit wohl doch komplexer war als die einfache Annahme eines Abschiedes vom Proletariat.

Stefan Goch, Gelsenkirchen



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