Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

William Patch Jr., Heinrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic, Cambridge UP, Cambridge 1998, 358 S., geb., 35 £.

Um eines gleich vorwegzunehmen: das Buch ist nicht die erste wissenschaftliche Biographie über Heinrich Brüning, wie es der Verlag auf dem Umschlag ankündigt. William Patch Jr. konzentriert seine Analyse auf die Jahre 1930 bis 1932, als Brüning Reichskanzler war, und bezieht Position in zentralen Forschungsdebatten. Dabei geht es zum einen um die Bewertung der Kanzlerschaft Brünings und zum anderen - in der sogenannten Borchardt-Kontroverse - um die Außen- und Wirtschaftspolitik des Zentrumpolitikers. Die zentrale These des Historikers vom Grinnell College im US-Staat Iowa ist, dass der Kanzler Brüning die parlamentarische Demokratie mit kleinen Änderungen nach dem Ende der Wirtschaftskrise wiederherstellen wollte. Dazu greift er auf neu zugängliche Quellen zurück, nämlich auf die an der Harvard Universität aufbewahrte, umfangreiche Korrespondenz des Zentrumspolitikers und auf nach der Emigration in den USA gehaltene Vorträge. Es stellt sich allerdings die Frage, ob gerade die Vortragsmanuskripte ausreichen, um die These von Patch wirklich überzeugend belegen zu können.

In Übereinstimmung mit Historikern wie Werner Conze vertritt der Autor die Ansicht, dass nicht die Ernennung, sondern die Entlassung Brünings als Kanzler den entscheidenden Wendepunkt im Auflösungsprozess von Weimar darstelle (S. 2). Die Kritiker Brünings, allen voran Karl Dietrich Bracher, haben dagegen argumentiert, dass sein Verhalten die Demokratie untergraben und den Boden für die NS-Diktatur bereitet habe. Ihnen galt die Veröffentlichung von Brünings Memoiren im Jahre 1970 als weiterer Beweis seiner antidemokratischen Haltung, denn der ehemalige Reichskanzler offenbarte darin, sein Ziel sei die Wiederherstellung der Monarchie gewesen.

Patch hingegen äußert große Zweifel an der Zuverlässigkeit der Memoiren, wie er bereits 1998 in einem Artikel im Journal of Modern History dargelegt hat. Er konfrontiert die Erinnerungen immer wieder mit Brünings Handlungen in den Jahren 1930 bis 1932, um darzulegen, dass dieser im Rückblick einige Situationen anders beurteilte, u.a. weil er über seine Entlassung 1932 verbittert war. Patch hält Brüning zwar für „a monarchist by sentiment" (S. 10, Hervorhebung durch S.P.), zeigt aber, dass sein politisches Verhalten dem eines „Vernunftrepublikaners" entsprach (S. 37). Deshalb steht Brünings Treue zur Weimarer Verfassung für den Autor außer Zweifel. Die Forderung nach der Wiederherstellung der Monarchie habe Brüning erst im März 1933 formuliert, um Konservative gegen Hitler zu mobilisieren (S. 301f.).

Brüning entstammte einem konservativen Milieu; Katholizismus und preußische Werte wie Fleiß und Disziplin prägten seine Einstellungen. Dabei ging er fälschlicherweise davon aus, dass ähnliche Vorstellungen auch Hindenburg zu einem Bürgen für die Weimarer Verfassung machen und ihm die weitgehende Unterstützung durch den Reichspräsidenten sichern würden. Die Interpretation dieses Verhältnisses erfolgt vorwiegend unter psychologischen Gesichtspunkten; für Patch hat Brüning in Hindenburg eine Art Vaterfigur gesehen.

Die Ursachen für das Scheitern der Großen Koalition unter Brünings Vorgänger Hermann Müller, SPD, sieht der Verfasser in erster Linie im Verhalten der DVP und der BVP, weniger beim Reichspräsidenten (S. 71). Gegenüber der Würdigung von Brünings Versuchen zur Rettung der Großen Koalition vernachlässigt Patch die Tatsache, dass dieser schon seit 1929 Kenntnis von den Plänen des Reichspräsidenten und der Reichswehrführung zur Umformung des politischen Systems von einer demokratischen Regierungsweise hin zu einem Präsidialregime hatte und sich diesen nach dem Scheitern der Regierung Müller sofort zur Verfügung stellte. Auch Patch muss anerkennen, dass dem Vorgehen im Juli 1930, als der Reichstag nach Ablehnung einer Deckungsvorlage zur Sanierung der Reichsfinanzen aufgelöst und die Vorlage in Form einer Notverordnung erlassen wurde, eine sehr umstrittene Auslegung des Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung zugrunde lag.

Zu den entscheidenden Männern an der Spitze der Reichswehr zählte General Kurt von Schleicher. Zwischen Brüning und ihm herrschten neben einem grundsätzlichen Misstrauen Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der DNVP, denn Brüning weigerte sich, mit dem Parteivorsitzenden Hugenberg eine Koalition eingehen. Da seine Hoffnungen auf eine Demokratisierung der Partei jedoch unerfüllt blieben, konnte er der auch von Hindenburg vorgetragenen Aufforderung nach einer Öffnung der Regierung nach rechts (um so die Tolerierung durch die SPD überflüssig zu machen) nicht nachkommen. Für Patch ist Schleicher der zentrale Gegenspieler Brünings, der zum einen verstärkt Einfluss auf Hindenburg gewann und zum anderen die Pläne des Kanzlers gerade in kritischen Situationen wiederholt unterlief, so z.B. im Zusammenhang mit dem Verbot der SA 1932. Patch verstärkt bei diesen Ausführungen die ohnehin vorhandene Tendenz zu einer stark personalisierten Betrachtungsweise der Ereignisse, die dem Gegenstand immanent ist.

Wie bewertet der Verfasser das Verhältnis Brünings zu den Nationalsozialisten? Bei den Wahlen im September 1930 gelang der NSDAP der große Durchbruch auf Reichsebene, den Brüning keinesfalls erwartet hatte, den er aber - und diesen Faktor muss man betonen - hätte erkennen können. Im Umgang mit der Partei Hitlers meint Patch bei Brüning eine „consistent though subtle antifascist strategy" (S. 140) erkennen zu können. Brüning lehnte eine Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten mit dem Argument ab, dass sie dadurch zwar geschwächt, dann aber nicht mehr ein effektives Gegengewicht gegen die noch größere Gefahr durch die Kommunisten darstellen würden. Gleichzeitig könne die Attraktivität der Partei in der Opposition kaum geschmälert werden, deshalb solle man Zurückhaltung in der Kritik an ihr üben. Die Voraussetzungen für einen Erfolg dieser doch gefährlichen Strategie, nämlich die fortwährende Unterstützung durch Hindenburg und außenpolitische Erfolge, waren aber nicht gegeben. Die Darstellung bei Patch erinnert an das Zähmungskonzept Schleichers, der jedoch die NSDAP gerade durch die Einbindung in die Regierungsverantwortung schwächen wollte.

Brünings oberstes politisches Ziel war die „Befreiung" Deutschlands von den Reparationen, und er erkannte in der ökonomischen Krise eine Chance, dies zu erreichen. Von einer Instrumentalisierung der Wirtschaftskrise für die Außenpolitik will Patch allerdings nicht sprechen (S. 172). Er schließt sich weitgehend Borchardt an und erkennt bis ins Frühjahr 1932 kaum Handlungsspielräume für eine antizyklische Wirtschaftspolitik. Dann allerdings habe der Kanzler der Außen- gegenüber der Wirtschaftspolitik zu große Priorität eingeräumt. Dem Vorwurf, Brüning habe die in der Wissenschaft vorhandenen Ansätze (Keynes) sowie die aus den Ministerien eingebrachten Vorschläge zur Konjunkturbelebung (Wagemann-Plan) vernachlässigt, versucht Patch entgegenzutreten. Zum einen habe es Brüning nicht besser wissen können als die überwiegende Mehrheit der Experten, die den Wagemann-Plan ablehnten (S. 216f.), und zum anderen habe Keynes bei einem Vortrag im Januar 1932 in Hamburg selbst die Meinung vertreten, dass Regierungen erst nach einer Stabilisierung der Weltfinanzmärkte effektive Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft einleiten könnten (S. 218). Wichtig erscheinen in diesem Zusammenhang auch die Hinweise, dass sich Brüning wiederholt erfolglos um eine Annäherung zwischen Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bemüht hat.

Insgesamt legt Patch eine detail- und facettenreiche Studie vor, bei deren Lektüre Vorkenntnisse durchaus hilfreich sind, gerade auch weil sie auf eine Person konzentriert ist.

Susanne Pumpe, Groß-Gerau



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