Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

David Warren Sabean, Kinship in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge UP, Cambridge 1998, XXVIII, 628 S., geb., 55 £.

Unter den Historikern, die in Mikrostudien die wirtschaftliche und/oder soziale Struktur eines Dorfes untersuchen, nimmt der amerikanische Sozialhistoriker David Warren Sabean insoweit eine Sonderstellung ein, als er einen großen Teil seines Werkes einem württembergischen Ort, Neckarhausen im Oberamt Nürtingen, gewidmet hat. Zuletzt untersuchte er in einem 1990 erschienenen umfangreichen Buch (Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870) das Wechselspiel ökonomischer und sozialer Verhältnisse in diesem Ort. Die vorliegende Studie baut darauf auf; ihr gingen einige kleinere Vorveröffentlichungen voraus.

Der Titel der neuen Arbeit, so klar er scheint, trifft zwar ihren sachlichen Kern, ist aber doch zu eng. Denn Sabean gibt zwar eine umfangreiche, überaus detailliert aus den Quellen gewonnene Darstellung der verwandtschaftlichen Beziehungen im Ort und belegt sie mit zahlreichen, eindrucksvollen Übersichten und Fallstudien, die den Ausführungen Leben und Farbe geben. Doch reichen seine Absichten weiter, indem er nicht nur die „klassischen" Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch Patenschaften, Pflegschaften, Bürgschaften, das Pfandgeben und dergleichen soziale Beziehungen in seinen Überlegungen berücksichtigt. Damit schlägt er eine Brücke zu den ökonomischen und sozialen Fragestellungen, die er mit dem Buch verbindet: Veränderten sich die sozialen Beziehungen im Dorf unter dem Einfluss der sich in der Untersuchungszeit wandelnden wirtschaftlichen Bedingungen, besonders der wichtiger werdenden Marktbeziehungen der Landwirtschaft und dem zunehmenden Einströmen von Geldkapital in diese, das zu Investitionen diente? Falls ja, in welche Richtungen und mit welchen Folgen? Das sind wichtige Fragen, die auch geeignet sind, den Zusammenklang ökonomischer und sozialer Verhältnisse und ihrer Wandlungen herauszuarbeiten.

Die Quellenlage ist – wie so oft in Württemberg – sehr gut und gestattet ein tiefes Eindringen bis in die Eigenheiten einzelner Familien. Sie zu nutzen, erfordert allerdings mühsame Kärrnerarbeit und das geduldige Erarbeiten und Zusammenstellen von kleinen und kleinsten Details. Sabean hat sie ein weiteres Mal nicht gescheut, doch darüber auch die größeren Zusammenhänge nicht vergessen, die das Buch strukturieren. Er vermied damit das Problem mancher Mikrostudien, in den Details steckenzubleiben und das Kleine auch klein zu lassen. Positiv wirkt sich dabei aus, dass er mit seiner langen und auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnlich wirkenden Untersuchungszeit bewusst die traditionelle Grenzlinie „industriell - vorindustriell" überspringt.

Um das Buch nicht zu überfrachten, gliedert er das Quellenmaterial in fünf Kohorten, die von 1700 bis 1709, 1740 bis 1749, 1780 bis 1789, 1820 bis 1829 und 1860 bis 1869 reichen und die hinreichend repräsentativ sind, so dass die fehlenden Zeiträume nicht vermisst werden. Bei der Interpretation dieses Materials unterscheidet er, vereinfacht gesagt, zwei große Perioden, deren Trennlinie in den 1740er Jahren liegt. In der ersten dominierten die „traditionellen„ verwandtschaftlichen Beziehungen, und bei den Heiraten spielten die Vermögensverhältnisse wenn überhaupt zumeist eine sekundäre Rolle. Danach änderte sich das zunehmend: Die Heiratsstrategien vor allem der wirtschaftlich besser Gestellten gingen dahin, innerhalb der weiteren Verwandtschaft Ehen zu schließen („Vetterleswirtschaft") und andere Bindungen etwa über Patenschaften aufzubauen, um auf diese Weise das Vermögen zusammenzuhalten und durch Ausweitung der Beziehungen neue Kontakte vor allem im geschäftlichen Bereich zu knüpfen. So wurden die Verwandtschaftsverhältnisse ökonomisch genutzt, und ihre Bedeutung für die einzelnen Familien stieg. Das steht im Widerspruch zu der herkömmlichen Auffassung, Verwandtschaftsbeziehungen hätten im späten 18. und im 19. Jahrhundert zu Gunsten einer stärkeren Betonung der Individuen an Gewicht verloren.

Im Ergebnis wuchsen als Folge dieser Entwicklungen die sozialen Gegensätze im Ort, worin Sabean – und das ist eine seiner zentralen Thesen – eine Grundlage für die Klassenbildung sieht. Überdies schreibt er den Frauen bei der Bildung der sozialen Netzwerke eine wichtige Rolle zu. Beide Thesen, besonders die der Klassenbildung, werden ausführlich diskutiert und begründet, wobei sich Sabean nicht mit dem Neckarhausener Material begnügt, sondern den Kreis seiner Argumentation weiter zieht. Anhand zahlreicher Beispiele vorzugsweise aus den Oberschichten (die Mittel- und vor allem die Unterschichten treten aus Materialmangel stark zurück) und aus der biographischen Literatur, die sich auf ganz Deutschland bezieht, macht Sabean Beziehungen zwischen Familienbindungen und Vermögensverhältnissen deutlich. Seine Argumentation ist eindrucksvoll (und auch gut zu lesen), ersetzt aber nicht eine stärker systematisch orientierte Analyse des Problems der Klassenbildung, die auch auf die in den Sozialwissenschaften seit langem eingeführten und immer neu diskutierten Klassenbegriffe (zumindest auf den von Max Weber) eingehen müsste. Hier hat mich die Arbeit nicht überzeugt.

In einem anderen Punkte vermeidet sie dagegen Kritik, die am ersten Neckarhausen-Buch von einigen Rezensenten geübt worden ist, nämlich die Beschränkung auf diesen Ort, aufgrund deren die Repräsentativität der Aussagen in Zweifel gezogen wurde. Sabean verwendet viel Mühe darauf, andere Untersuchungen heranzuziehen und auszuwerten, die zu vergleichbaren Ergebnissen kommen. Das Resultat ist eindrucksvoll: Verwandtschaft scheint eine soziale Kategorie zu sein, die von der Sozialgeschichtsforschung bisher anscheinend unterschätzt worden ist, die aber auf jeden Fall Aufmerksamkeit und weitere Forschungsarbeiten lohnt.

Karl Heinrich Kaufhold, Göttingen



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