Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Karsten Steiger, Kooperation, Konfrontation, Untergang. Das Weimarer Tarif- und Schlichtungswesen während der Weltwirtschaftskrise und seine Vorbedingungen, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1998, 366 S., kart., 124 DM.

Dem Thema Tarifpolitik ist bisher von geschichtswissenschaftlicher Seite wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden, wie überhaupt die „industriellen Beziehungen", die seit längerer Zeit ein Thema der Sozial- und Politikwissenschaften bilden, von den Historikern nur zögernd als Untersuchungsfeld angenommen werden. Im Hinblick auf die Tarifvertragsgeschichte der Weimarer Republik hat bisher vor allem das staatliche Schlichtungswesen Interesse gefunden. Hintergrund dieser Fokussierung auf die staatliche Handlungsebene ist die Tatsache, dass sich während der Weimarer Republik in den meisten Branchen zu keinem Zeitpunkt funktionierende autonome Tarifbeziehungen herausbildeten, sondern der Appell an die staatlichen Schlichtungsorgane weitgehend der Regel entsprach.

Karsten Steigers Berner Dissertation zum „Tarif- und Schlichtungswesen während der Weltwirtschaftskrise" reiht sich in diesen Forschungskontext ein. Gegenstand der Untersuchung ist vor allem die staatliche Gesetzgebungs- und Verordnungspolitik, während die Schlichtungstätigkeit selbst nur sporadisch, das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander kaum eine Rolle spielt. Die Haltung von Arbeitgebern und Gewerkschaften zum Schlichtungsrecht und zur staatlichen Schlichtungspraxis wird lediglich auf der Ebene der Dachverbände (ADGB, VDA/RDI) erörtert, die selbst keine Tarifverhandlungen führten, sondern durch Denkschriften, Eingaben etc. Einfluss auszuüben versuchten.

Die Untersuchung gliedert sich in zwei größere Abschnitte: Der erste, einleitende Teil skizziert die Entwicklung des „Tarifwesens" bis 1930. Steigers Vorsatz, sein Thema bis zu den Wurzeln zurückzuverfolgen, beschert dem Leser u. a. eine ausführliche Erörterung des Buchdrucker-Tarifvertrags von 1873. So verwundert es nicht, dass allein die Darstellung der Tarifvertragspraxis im Kaiserreich mehr als 100 Seiten Text beansprucht und das Buch bereits zur Hälfte geschrieben ist, bevor der Autor dazu kommt, sich seinem eigentlichen Thema zu widmen. Im Hauptteil werden die tarif- und schlichtungspolitischen Eingriffe der Kabinette Brüning, Papen und Schleicher untersucht sowie Motive und Auswirkungen der Interventionsmaßnahmen in den Blick genommen. Den Abschluss der Studie bildet ein Ausblick auf die Tarifordnungspolitik des NS-Regimes.

In der Gesamtschau auf die Ära der Präsidialkabinette erkennt Steiger im Übergang von Brüning zu Papen die entscheidende Bruchstelle in der Tarif- und Sozialpolitik. Seien die tarifrechtlichen Grundlagen bis zur Abdankung Brünings im Mai 1932 noch völlig unversehrt geblieben, so habe sein Nachfolger Papen die Ventile für die willkürliche Durchbrechung des Tarifvertragsprinzips geöffnet. Diesem Urteil ist nur insoweit zuzustimmen, als unter Brüning wesentliche Tarifrechtsnormen wie Unabdingbarkeit und Durchführungspflicht erhalten blieben, so dass die Tarifkontrahenten an vertragliche Vereinbarungen weiterhin gebunden waren. Zugleich aber griff die Regierung selbst auf dem Notverordnungswege massiv in das Lohngefüge und die Laufzeit von Tarifverträgen ein und vollzog somit einen Übergang von der Schlichtungs- zur staatlichen Lohnverordnungspolitik, so dass von einem intakten Tarifsystem keineswegs mehr die Rede sein kann. Papen ging über die Politik der staatlichen Lohnregulierung insofern entscheidend hinaus, als er den Arbeitgebern erstmals rechtliche Möglichkeiten zur Tarifunterschreitung an die Hand gab und damit das Tarifvertragsrecht auch auf der Ebene der Tarifpartnerbeziehungen substantiell aushöhlte. Das Kabinett Schleicher, dem Steiger nur wenige Seiten widmet, gelangte aufgrund seiner kurzen Amtszeit in der Tarif- und Schlichtungspolitik über Ansätze nicht hinaus.

Im NS-Staat trat an die Stelle tarifvertraglicher Aushandlungsprozesse ein staatlich organisiertes Tarifordnungssystem. Die Ablösung tausender Tarifverträge vollzog sich notgedrungen als langwieriger Prozess - noch 1937 galten reichsweit mehr „alte" Tarifverträge als neuerlassene Tarifordnungen. Steiger zieht aus dieser Tatsache den irrtümlichen Schluss, die Treuhänder der Arbeit hätten von ihrer - vermeintlichen – „Machtfülle" kaum Gebrauch gemacht. Es handelt sich hier aber keineswegs um ein Machtproblem, sondern um eine Frage der Aufrechterhaltung von Rechtsbeziehungen, die sich 1945 in ähnlicher Weise erneut stellte: Nationalsozialistische Tarifordnungen blieben nach Kriegsende so lange in Kraft, bis sie durch Manteltarifvereinbarungen ersetzt wurden.

Steigers Untersuchung bietet für die Zeit der Weltwirtschaftskrise eine genaue Rekonstruktion der Tarif- und Schlichtungsgesetzgebung und ihrer im Wechsel der Kabinette eintretenden Akzentverschiebungen. Der ausführliche Rekurs auf die einschlägige Gesetzgebungs- und Verordnungspraxis seit 1918 ist eine sinnvolle Ergänzung dazu, so dass der Leser einen Überblick über die Gesamtthematik der staatlichen Einflussnahme auf das Tarifvertragswesen in der Zeit der Weimarer Republik erhält. Darüber hinaus bietet die Studie kaum neue Einsichten - vor allem auch im Vergleich zu Johannes Bährs Buch „Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik" (Berlin 1989), das die Schlichtungsproblematik in einem größeren sozial- und interessenpolitischen Kontext untersucht. Gerade der Bereich der staatlichen Tarif- und Schlichtungspolitik ist für die Zeit der Weimarer Republik verhältnismäßig gut erforscht; woran es hingegen nach wie vor mangelt, sind Untersuchungen, die das konkrete Tarifvertragsgeschehen auf Branchenebene ins Blickfeld nehmen - und zwar unter Berücksichtigung der jeweiligen ökonomischen Rahmenbedingungen sowie der Motive, Strategien und Handlungsspielräume der Tarifparteien.

Ein allgemeines Problem der Studie erwächst aus der Neigung des Autors zu unnötigen thematischen Erweiterungen. Sowohl das Kapitel zum Kaiserreich als auch die Ausführungen zur nationalsozialistischen Tarifordnungspolitik, zur allgemeinen Lohn- und Arbeitszeitentwicklung, zur Lage der weiblichen Beschäftigten usw. sind entbehrlich, zumal der Autor zu diesen Bereichen keine eigenen Nachforschungen angestellt und auch die einschlägige Literatur nur flüchtig - und unvollständig - durchgesehen hat. Eine Vertiefung der eigentlichen Thematik im Hinblick auf Umsetzung und Auswirkungen der Schlichtungspolitik wäre hier sinnvoller gewesen.

Günter Könke, Vögelsen



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