Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Bereits viele Zeitgenossen konnten sich angesichts der markigen, provozierenden und oft jeden Takt vermissen lassenden Reden Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers, nicht des Eindrucks erwehren, dass dessen Verhalten nur noch psychologisch zu erklären sei. Der Historiker und Pazifist Ludwig Quidde verbreitete diese Deutung in seiner kaiserkritischen Satire „Caligula" bereits in den 1890er Jahren öffentlich und unter Inkaufnahme erheblicher persönlicher Nachteile. Es ist daher nicht erstaunlich, dass heutige Historiker dem „Reiz" psychologisierender Interpretationen des obersten Repräsentanten einer Epoche nicht widerstehen können.

Die umfangreichste und quellenmäßig fundierteste Biografie aus diesem Blickwinkel hat der englische Historiker John Röhl vorgelegt. Mit großer Akribie beschreibt Röhl, der ein ausgeprägtes Gespür für das Auffinden neuer Quellen besitzt, die Jugend des Kaisers. Dreh- und Angelpunkt seiner Interpretation sind dabei die körperlichen „Leiden" des späteren Monarchen: die schwierige Geburt, der dabei verkrüppelte Arm sowie ein späteres, langwieriges Ohrenleiden. Diese ausführlichst geschilderten Leiden wie auch die brutalen Versuche, sie zu kurieren, sind nach Meinung des Autors mit für die mentale Labilität des Kaisers verantwortlich. Das stets gespannte Verhältnis zwischen Sohn und Mutter und - last but not least - die problematischen Methoden von dessen Erzieher, Hinzpeter, taten ein Übriges, die Sozialisation des heranwachsenden Thronfolgers zu beeinträchtigen.

Der Rezensent kann nicht verhehlen, dass er mancher Argumentation nur schwer folgen kann, da der unmittelbare Zusammenhang zwischen diesen Faktoren und den Gedanken und Handlungen des Kaisers nicht ohne weiteres ersichtlich ist, so zwingend die Argumentationskette des Verfassers auch zu sein scheint. Dennoch, das entworfene Charakterporträt Wilhelms II. ist lesenswert und in hohem Maße diskussionswürdig.

Weiterführender und überzeugender sind hingegen die vielen detailreichen Schilderungen der verschiedenen Lebensstationen des Prinzen. Kaum ein Aspekt bleibt ausgespart, angefangen von Schulzeit und Studium, innerfamiliären Auseinandersetzungen und ersten „Ausflügen" in die Politik. Vor allem was Letzteres betrifft, bringt Röhl die Forschung in vielerlei Hinsicht voran, vermag er doch zu zeigen, wie sehr Wilhelm beispielsweise im Verkehr mit dem russischen Zaren oder seiner Großmutter, der Königin Victoria, wie auch bei seinen Kontakten mit Waldersee, einem ausgesprochenen Vertreter der „Kriegspartei" in den 1880er Jahren, in einer Weise politisch agierte, die als höchst bedenklich bezeichnet werden muss. Der ausführlich beschriebene Bruch mit den „Bismarcks" (S. 717-733) war daher unvermeidlich. Vieles, was Wilhelm II. später unternahm, scheint in dieser Zeit insofern eine plausible Erklärung zu finden. Inwieweit damit aber bereits abschließend die Frage beantwortet ist, ob Wilhelm II. mehr Repräsentant einer Epoche als tatsächlich aktiv handelnder Monarch war, werden erst die nächsten Bände des Autors zeigen. Diese werden der Forschung hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft zur Diskussion vorgelegt werden. Dennoch, auch für den bereits vorgelegten ersten Teil gebührt dem Autor, auch wenn man nicht alle Thesen teilen mag, ein großes Lob.

Vom eigenen Anspruch her weder eine Biografie noch eine Monografie ist die Darstellung Sombarts. Es handelt sich vielmehr um einen Essay, dessen Ziel es ist, Wilhelm II. - anders als Röhl (S. 7f.) - „etwas mehr Wohlwollen entgegenzubringen und ihm vielleicht etwas gerecht zu werden". Dieser Anspruch ist legitim, wird aber letztlich, dies sei vorweg gesagt, in dieser Form wenig überzeugend eingelöst. Abgesehen von der unzureichenden Quellenbasis, ist dafür nach Meinung des Rezensenten bereits der Ansatz verantwortlich. So verknüpft Sombart allzu deutlich Gerechtigkeit für den Kaiser und nationales Selbstbewusstsein der Deutschen (S. 9). Dass Wilhelm II. in vielem ein Repräsentant eines Zeitalters war, ein ganz normaler „europäischer Fürst", wie der Autor ihn beschreibt, ist gar nicht zu bestreiten. Diese Kapitel sind aufgrund der Schilderung mancher Details einer versunkenen Epoche durchaus lesenswert, trotz ihres essayistischen Charakters, der die Unterschiede und Probleme freilich eher nivellieren und beschönigen hilft. Wenig überzeugend erscheint aber der Versuch, auf annähernd hundert Seiten Bismarck und seine Epigonen für die ungerechtfertigte Kritik an diesem Monarchen, der doch nur so gewesen sei, „wie ihn das Volk wollte" (S. 88), verantwortlich zu machen. Die Eulenburg-Affäre mit ihren Facetten ist zweifellos interessant und politisch bedeutsam; sie aber primär unter dem Motto „Bismarcks Rache" zu einem Vorspiel der Novemberkrise 1918 zu stilisieren, erscheint verfehlt. „Kraus" sind auch die in diesem Zusammenhang formulierten Thesen über das Wechselspiel von Homosexualität, Persönlichkeit und Politik. Wilhelm II. war mehr als nur ein Sündenbock, so labil er zweifellos war. Vor diesem Hintergrund ist es allerdings konsequent, dass Sombart den Krieg für unvermeidlich hält, der den Kaiser, wiederum als Sündenbock, schließlich vom Thron fegte. Viele Probleme werden damit verkürzt, die tatsächliche Rolle des Kaisers in der Politik vor und nach 1914 wird im Grunde weder analysiert noch in ihren Motiven und Wirkungen hinterfragt. Richtig allein bleibt die Feststellung, dass es nach 1918 üblich und leicht war, alle Schuld auf Wilhelm II. Zu schieben. Dies war zweifellos ungerecht und historisch falsch. Ob man dem letzten Kaiser durch einen derartigen Annäherungsversuch, der sich immer wieder auf Walther Rathenau als Kronzeugen beruft, wirklich gerecht werden kann, bleibt noch zu beweisen. Zunächst einmal erscheint er jedenfalls mangels tiefer gehender Analysen und Berücksichtigung des komplexen historischen Kontexts wenig gelungen.

Ähnlich problematisch ist die Studie von Waite. Vergleichende Arbeiten haben ja einen besonderen Reiz. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um zwei Personen handelt, die, wie Wilhelm II. und Hitler, im Abstand einer Generation das Deutsche Reich zweimal in den Abgrund geführt haben. Dass gute Historiker, wie vom Autor suggeriert (S. IXf.), auch gute Psychotherapeuten sein sollten, erscheint eine kühne, nicht einlösbare Forderung, zumal die „Patienten" gar nicht mehr „befragt" werden können. Der Verfasser ist davon freilich überzeugt, und wie ein Therapeut analysiert er seine Protagonisten: Auf annähernd 400 Seiten - darunter insgesamt acht Anhänge, in denen er detailliert spezifische Probleme seiner „Patienten" behandelt - versucht er Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Wirklich neue Erkenntnisse kann er dabei nicht vorlegen. Schwere Kindheit, Selbstzweifel und der gemeinsame Glaube an die eigene Allmacht, Schwierigkeiten im Verhältnis gegenüber Frauen, früh zu verzeichnende rassistische Überzeugungen sowie künstlerische Qualitäten sind zweifellos Gemeinsamkeiten, Gemeinsamkeiten freilich, die beide mit vielen anderen teilen. Die Schlussfolgerung aber, dass „for each of them, his exalted position as ruler of a mighty nation served the therapeutic function of enabling him to avoid psychic disintegration by indulging his need for grandiosity and power" (S. 347), erscheint weit hergeholt. Fast „banal" - so ist man geneigt zu sagen - ist der Hinweis auf den einzigen, „overriding" (ebd.), Unterschied zwischen beiden: „Adolf Hitler was fundamentally an evil person and the Kaiser, for all his faults, was not." Darin liegt dann auch die Erklärung für die Verbrechen Hitlers, Verbrechen zu denen Wilhelm II. nicht zuletzt - so die Meinung des Autors - aufgrund seiner religiösen Bindungen nicht fähig war. Das ist nicht zu bestreiten, ist aber weder neu noch erkenntnisfördernd. Eine derartige Herangehensweise zeigt vielmehr, dass ein psychoanalytischer biografischer Zugriff große Risiken in sich birgt. So interessant manche psychologische Interpretation daher vielleicht auf den ersten Blick auch ist - der Rezensent kann nicht verhehlen, dass er „klassischen" modernen Biografien, die das Leben ihres „Helden" in den Kontext der Zeit einordnen, den Vorzug vor unfundierten Spekulationen geben würde. John Röhls Studie ist in dieser Hinsicht allein aufgrund ihres Reichtums an historischen Details noch am ehesten geeignet, die Wissenschaft voranzubringen.

Michael Epkenhans, Bardowick



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