Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Gerhard Paul/Miriam Gillis-Carlebach (Hrsg.), Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918 - 1998), Verlag Wachholtz, Neumünster 1998, geb., 943 S., 200 Abb., 78 DM.

Der hier angezeigte Sammelband vereinigt 59 Aufsätze. Das ist für eine regionalgeschichtliche Publikation ein ungewöhnliches Vorhaben. Für ihren Erfolg zeichnen zwei Herausgeber verantwortlich, deren Sachkunde in diesem unverändert sensiblen Bereich außer Frage steht. Gerhard Paul leitet das Forschungsprojekt "Zur Geschichte des Terrors" am Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte an der Bildungswissenschaftlichen Hochschule Flensburg - Universität (Schleswig) und Miriam Gillis-Carlebach ist Leiterin des Joseph-Carlebach-Instituts an der Bar Ilan-Universität in Ramat Gan (Israel). Den Herausgebern ist es mit glücklicher Hand gelungen, zahlreiche Autoren unterschiedlichster beruflicher Herkunft zu gewinnen, die sich mit offenkundiger Neigung der regionalen und lokalen Facetten der deutsch-jüdischen Geschichte in Schleswig-Holstein angenommen haben. Diese Geschichte steht im Gesamtzusammenhang der Geschichte deutscher Juden auf den ersten Blick gewiss nicht an zentraler Stelle. In den 47 Städten, 1.345 Landgemeinden und 4 Gutsbezirken lebten 1925 in dieser agrarisch geprägten preußischen Provinz nur 4.125 Glaubensjuden. Das entsprach einem Anteil von 0,27 Prozent der Gesamtbevölkerung. Allein 2.409 oder 58 Prozent hatten ihren Wohnsitz in Altona, das damit die eigentliche "Hauptgemeinde" der schleswig-holsteinischen Juden mit einem traditionellen Oberrabbinat war und sich zudem dem Einfluss der starken Hamburger Gemeinde ausgesetzt sah. Neben Altona waren Kiel mit 522 und Lübeck mit 497 Juden die weiteren Zentren jüdischen Lebens. In den Landgemeinden lag der Anteil der Juden im Gesamtdurchschnitt bei lediglich 0,005 Prozent.

Am Beispiel des jüdischen Lebens der Weimarer Republik in Schleswig-Holstein zeigt sich, wie schwierig es sein musste, mehr als 50 Jahre nach Vernichtung dieses Lebens noch aussagekräftige Spuren dessen nachzuweisen, was gewesen war. Das ist dem Sammelband jedoch in ausgezeichneter Weise gelungen. Es entsteht für den Leser ein Bild voller Farbigkeit und Detailinformationen, die sich zu einem aussagekräftigen Mosaik zusammensetzen lassen. Der von den Herausgebern verfolgte Gedanke war, zahlreiche Autoren zu gewinnen, die als Zeitzeugen aus ihrer eigenen Lebensgeschichte über ein jüdisches Leben in der Diaspora erzählen konnten. So wird zunächst das "Jüdische Milieu" vor und nach 1933 geschildert. Die jüdische Gemeinde in Kiel, die Tätigkeit der Rabbiner in Schleswig-Holstein, das jüdische Schul- und Bildungswesen, das Vereinsleben und eine Homage an Sidonie Werner, der Führungsgestalt der jüdischen Frauenbewegung sind Gegenstände der Betrachtung. Überliefert sind drei Ansprachen vom 19. März 1933 in der Kieler Synagoge. Sie zeigen trotz ihrer Verhaltenheit erste Anzeichen einer tiefgreifenden Unsicherheit. So mochte der von 1926 bis 1936 in Altona amtierende Oberrabbiner Dr. Joseph Carlebach, der Vater der Herausgeberin, gewiss noch seinen seelsorgerischen Einfluß ausüben. Über diesen bemerkenswerten Rabbiner findet sich im Sammelband eine ausgezeichnete Untersuchung des israelischen Religionswissenschaftlers Meir Seidler. Gerade derartige reflektierende Beiträge fundieren die lokalen und biographischen Facetten und den darin liegenden Verzicht auf eine Gesamtgeschichte der schleswig-holsteinischen Juden.

Verfolgung und Selbstbehauptung während der Jahre nach 1933 sind Gegenstand des zweiten Teiles des Sammelbandes. Er ist mit 30 Aufsätzen zugleich der auch äußerlich wichtigste Teil. Von einer allgemeinen Verfolgungsgeschichte heben sich die Darstellungen ab. Die Beiträge sind jeweils sehr konkret, tauchen tief in die Lebensgeschichte Einzelner ein und sind damit angesichts vielfach fehlender unmittelbarer Zeugnisse sozialgeschichtlich von gewichtigem Interesse. Der Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, das Verdrängen aus verschiedenen Lebensbereichen, das Vertreiben, das Untergehen gewachsener Strukturen, die bürokratische Umsetzung der Diskriminierung, die Arisierungen, die beginnende Umorientierung einzelner Juden, der erfolgreiche oder der misslungene Versuch der Auswanderung, die Deportationen, schließlich das Morden - der Leser erfährt aus den Beiträgen nahezu alle Phasen der jeweils in Nuancen dann doch anders verlaufenden Verfolgung. Vieles liest man in dieser Konkretheit erstmals. Auch hier ist der mitgeteilte Detailreichtum erstaunlich. Nichts wird verschwiegen, Tatsachen und Namen werden genannt. Das geschieht, ohne in einen anklagenden Ton zu verfallen, mit einer bemerkenswerten Distanz auch bei jenen, deren persönliche Betroffenheit man erahnen kann. Die vielfach hinzugefügten Abbildungen ergänzen dies zu hoher Anschaulichkeit. Den Herausgebern ist auch hier eine Mischung von narrativen und solchen Beiträgen gelungen, die im historischen Abstand das konkrete Geschehen reflektierend in einen Gesamtzusammenhang stellen. So ist für diesen Teil geradezu eine sozialgeschichtliche Fundgrube entstanden. Das bedeutet eine Differenziertheit, die immer erneut die Forderung nach der Arbeit am sozialgeschichtlichen Detail zu rechtfertigen vermag. Ohne Frage war Schleswig-Holstein eine "tiefbraune" Provinz. Die Haltung der evangelischen Kirche ist beklagenswert. Dennoch zeigt die Analyse, wie die rassenbiologistische Indoktrination zwar vorhanden war, aber dennoch keine "durchnazifizierte" Gesellschaft bilden konnte. Es ist das Verdienst des Mitherausgebers Gerhard Paul, dies in eigenen Beiträgen aufzuzeigen.

Die Herausgeber haben - es wurde erwähnt - der Versuchung widerstanden, in einer verfolgungsgeschichtlichen Befundaufnahme zu verharren. In einem dritten Teil wird über Neuanfänge, namentlich in Palästina, berichtet, über jüdische "Displaced Persons" (1945-1951), über die Internierung der "Exodus-Flüchtlinge" in Lübeck (1947) und über Reimigrationen. Beeindruckend ist die autobiographische Skizze von Chaim Hermann Cohn, dem späteren Richter am Obersten Gericht Israels. Cohn, Enkel des Lübecker Rabbiners Salomon Carlebach, hat in seiner erstmals 1968 in hebräischer Sprache erschienenen Schrift "Der Prozeß und der Tod Jesu aus jüdischer Sicht", 1997 in deutscher Sprache erschienen, eine juristisch fundierte Darstellung eines aus seiner Sicht "frühchristlichen" Antijudaismus oder Antisemitismus vorgetragen. Der Zufall will es, dass mit der Darstellung über die Reimigration von Rudolf Katz auch ein anderer oberster Richter in den Blick des Lesers gerät. Katz, Sohn eines jüdischen Kantors und Lehrers an der jüdischen Religionsschule in Kiel, wurde 1951 erster Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. An diesen Teil schließt sich sinnvoll als letzter Abschnitt des Sammelbandes die Frage an, was nach 1945 auf deutscher, nicht-jüdischer Seite in Schleswig-Holstein in Bewahrung der Erinnerung, aber in politischer Verantwortung in Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte geschah. Der ehemalige Justizminister des Landes, Klaus Klinger, zieht ein kritisches Resümee über die Justiz, die es nicht vermochte, eine wirksame Nachkriegsjustiz zu entwickeln, sondern mit den Mitteln der Verfahrenseinstellungen, der Gnadenerlasse oder Mindeststrafen das zuzuschütten versuchte, was nicht zugeschüttet werden durfte. Das hier angezeigte Buch wirft keine neuen Gräben auf, aber es ist eine äußerst gelungene Aufarbeitung auf sozialgeschichtlicher Grundlage und bietet damit einen Beleg dafür, dass sich wissenschaftliche Solidität mit einem politisch-moralischen Anliegen zu verbinden vermag.

Ina Lorenz, Hamburg



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