Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

David Clay Large, Hitlers München, Verlag C. H. Beck, München 1998, 515 S., 66 Abb. und 2 Karten, geb., 49,80 DM.

In ihrem 1996 erschienenen Buch "Hitlers Wien" hat Brigitte Hamann die Kultur- und Sozialgeschichte der Stadt in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg aus dem Blickwinkel eines jungen Gelegenheitsarbeiters aus der Provinz darzustellen versucht. Der junge Mann namens Adolf Hitler siedelte am 25. Mai 1913 nach München über. "Hitlers München" von David Clay Large ist allerdings keineswegs eine unmittelbare Fortsetzung von Brigitte Hamanns Werk, auch wenn sich die beiden Bücher notwendigerweise in vieler Hinsicht ergänzen. Hamanns Werk hat ein schlüssiges Konzept: Es analysiert die politischen und soziokulturellen Einflüsse, die in seinen fünfeinhalb Jahren in Wien auf den jungen Hitler einwirkten. Es stellt somit einen wichtigen Beitrag zu seiner Biographie dar. Large stellt die Stadt München in den Mittelpunkt seiner Darstellung, welche einen weitaus größeren Zeitraum als die Hamanns umfasst. Sie setzt mit der Prinzregentenzeit um die Jahrhundertwende ein, wird bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs geführt und durch einen Epilog über den Umgang der Stadt München mit ihrer problematischen Geschichte abgeschlossen. Larges Buch untersucht also einen Zeitraum, der länger ist als Hitlers ganze Lebensspanne.

München war die Stadt, in der Hitler die Grundlagen für seine politische Karriere legte und die günstige Bedingungen für seinen politischen Aufstieg bot. Hier wurde er von wichtigen Teilen des politischen Establishments Bayerns vor und nach seinem gescheiterten Putschversuch mit großem Wohlwollen behandelt und hier sollte nach seinem Willen auch für immer das "Mekka" und das "Rom" seiner Bewegung sein. Doch mit seinem Aufstieg ließ Hitler München immer mehr hinter sich. Die politische Musik spielte seit Anfang der Dreißigerjahre in Berlin und anderswo und auch als privates Refugium wurde Hitlers Münchner Stadtwohnung zunehmend vom Obersalzberg abgelöst. Diese Entwicklung wurde durch die Verleihung der Ehrentitel "Hauptstadt der Deutschen Kunst" (1933) und "Hauptstadt der Bewegung" (1935) an die Isarmetropole symbolisch überdeckt, im Grunde aber zugleich bestätigt: Die Hauptstadt des deutschen Reiches war und blieb in Preußen. Je weiter die Darstellung in die Zeit des Dritten Reiches vordringt, desto problematischer wird es daher, die Geschichte Münchens und die Hitlers auf einen Nenner zu bringen.

Im Gegensatz zu der gängigen Meinung, München sei wegen des anhaltenden Schocks, den die kurzlebige Räterepublik bei weiten, vor allem bürgerlichen Kreisen ausgelöst habe, zur Wiege der gegenrevolutionären NSDAP prädestiniert gewesen, glaubt Large, die bayerische Landeshauptstadt habe sich schon in den ersten drei, vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg auf ihre fatale Rolle vorbereitet. Die blühende Münchner Kultur habe nicht nur herausragende Werke der Moderne hervorgebracht, sondern auch eine Kritik der kosmopolitischen Modernität und des politisches Liberalismus, an die die Völkischen hätten anknüpfen können. Die Frage, ob ähnliche Verhältnisse nicht vielleicht auch in anderen urbanen Zentren wie Berlin oder Wien bestanden, beantwortet der Verfasser nicht. Er stellt sie nicht einmal.

Es gelingt ihm auch nicht, seinen Ansatz wirklich durchzuhalten. Zwar erfährt der Leser viel über die reaktionären Offensiven gegen die Schwabinger Bohème sowie über deren eigene Ambivalenzen – ausführlich thematisiert etwa am Beispiel des Dramatikers Oskar Panizza, der eben nicht nur der Kritiker von Wilhelminismus und katholischer Kirche, als der er heute gerade in progressiven Milieus gerne gesehen wird, sondern zugleich ein in der Wolle gefärbter Antisemit war. Aber irgendwo im Lauf der Darstellung verliert sich dieses Anfangsmotiv, ohne je wieder aufgenommen zu werden.

Die starke Seite des Buches ist nicht die Analyse, sondern seine Anschaulichkeit. David Clay Large ist ein brillianter Erzähler mit einer stark ausgeprägten Lust an ironischen Formulierungen. Zuweilen wünscht man sich zwar, er hätte dieses Gewürz etwas sparsamer dosiert, aber insgesamt ist "Hitlers München" doch ein ausgesprochenes Lesevergnügen, ein Kaleidoskop der Münchner Geschichte über mehr als fünfzig Jahre, in denen, auch das wird deutlich, eine versponnen-reaktionäre Grundströmung mehr bewegt oder auch abgedrängt hat, als das herkömmliche Bild der gemütlichen Bayernmetropole wiedergibt. Die größte Dichte erreicht die Darstellung naturgemäß in den Kapiteln, die sich dem Aufstieg des Nationalsozialismus in München widmen. Dem Urteil eines anderen Rezensenten, Hermann Graml, dass es sich hierbei um ein historiographisches Gegenstück zu Lion Feuchtwangers Roman "Erfolg" handelt, kann man nur zustimmen. Large thematisiert den Exodus einer ganzen Kohorte namhafter Dichter und benennt den seiner Wahlheimat treu gebliebenen Thomas Mann als Kronzeugen für die Provinzialisierung und Verrohung der Atmosphäre in der Stadt. In den Kapiteln zum Dritten Reich verliert das Buch aus den genannten Gründen an Kohärenz. Beispielsweise darf natürlich ein Abschnitt über das Münchner Abkommen von 1938 nicht fehlen (S. 375-383), da aber die nationalsozialistische Außenpolitik nicht das Thema des Buches ist, hat dieser den Charakter eines recht unverbunden dastehenden Einsprengsels. Der Leser erfährt auch viel über die Pferdebegeisterung und schwülstigen Festinszenierungen des Nazi-Stadtrats Christian Weber, die politische Rolle des NS-Bürgermeisters Karl Fiehler, der immerhin zugleich auch Leiter des kommunalpolitischen Hauptamtes der NSDAP war, bleibt jedoch im Dunkeln.

Die größte Schwachstelle ist indes die Darstellung des Widerstands. Zu Recht macht Large auf die Ambivalenz der Haltung vieler Münchner aufmerksam, die an der NS-Herrschaft allerhand auszusetzen hatten, ohne jedoch politisch eindeutig Stellung zu nehmen (S. 391; wobei Large die Diskussion um Resistenz und "widerwillige Loyalität" offenkundig völlig entgangen ist). Doch er ignoriert auch große Teile des Widerstandes der tatsächlich nicht selten unter Lebensgefahr geleistet wurde. Natürlich kommen der Hitlerattentäter Johann Georg Elser und Pater Rupert Mayer vor, und auch die Weiße Rose darf nicht fehlen (die Nachfolgegruppe um Hans Leipelt und Marie-Luise Schulze-Jahn wird allerdings schon nicht mehr erwähnt). Der sozialistische und kommunistische Widerstand indessen wird mit Schweigen übergangen, und auch die mutigen Münchner Jesuiten Delp, König und Rösch tauchen nicht auf. Über die „Freiheitsaktion Bayern" mag man geteilter Meinung sein, aber jedenfalls begannen ihre Aktionen am 26. April und nicht, wie Large schreibt, am 28., doch auch zu diesem Zeitpunkt kann keine Rede davon sein, dass amerikanische Truppen "schon in den Vororten Münchens standen" (S. 431 f.; möglicherweise liegt hier auch ein Übersetzungsfehler vor). Large hat ein süffiges Lesebuch zur Münchner Geschichte und ihre Verstrickung in Aufstieg und Fall der NSDAP vorgelegt, aus dem Bewohner und Freunde Münchens allerhand Interessantes und zum Teil Unbekanntes erfahren können. Insofern ist es auch ein Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung, ein Meilenstein der Wissenschaft ist es nicht.

Jürgen Zarusky, München



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