Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Gerd Kuhn, Wohnkultur und kommunale Wohnungspolitik in Frankfurt am Main 1880 bis 1930. Auf dem Wege zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen, Verlag J. H. W. Dietz/Nachf., Bonn 1998, 452 S., zahlr. Abb., geb., 68 DM.

Die Literatur zur kommunalen Wohnungspolitik in Deutschland ist kaum noch zu überblicken. Die Geschichte des Wohnens vieler Städte ist inzwischen geschrieben und besonders die der Stadt Frankfurt am Main gehört zu den interessantesten und am häufigsten geschilderten. Stark im öffentlichen Bewusstsein verankert ist bis heute die Frankfurter Wohnungspolitik der Zwanzigerjahre, die mit dem Namen des Architekten Ernst May eng verbunden ist. Der dem Bauhaus nahe stehende "Stadtbaumeister", in dessen Römerstadt-Siedlung bis heute Architekturklassen pilgern, machte Frankfurt in der Stabilitätsphase der Weimarer Republik zu einem Zentrum des modernen, sozial orientierten Wohnungsbaus. Begleitet war die rege Bautätigkeit durch eine innovative Publikationspolitik, die die wohnungspolitischen, ästhetischen und sozialen Vorstellungen des "Neuen Frankfurts" bis nach Japan hin bekannt machten.

Diese nur ein Jahrzehnt dauernde Phase der Frankfurter Wohnungspolitik hat in letzter Zeit in einer Reihe von Publikationen und Ausstellungen eine umfassende Würdigung erfahren. Auch Gerd Kuhns aufwendig ausgestattete Dissertation zur Frankfurter Wohnungspolitik ist auf dem Einband mit einer Detailaufnahme aus der Römerstadt illustriert. Doch ansonsten hat der Autor versucht, die allzu ausgetretenen Pfade zu verlassen. Dies wird bereits dadurch ersichtlich, dass er den Untersuchungszeitraum nicht auf das Kaiserreich oder die Weimarer Republik beschränkt, sondern von den 1880er Jahren bis zu Beginn der 1930er Jahre ein halbes Jahrhundert großstädtischer Wohnungspolitik überblickt. Kontinuitäten und Zäsuren werden über einen solch langen Zeitraum klarer ersichtlich. So treten beispielsweise die Jahre zwischen 1917 und 1924 deutlich als wohnungspolitische Umbruchphase hervor, in der ordnungspolitische Prioritäten von sozialpolitischen abgelöst wurden.

Drei Teilaspekte der Wohnungspolitik rückt Kuhn in den Vordergrund. Zunächst stellt er, eingebunden in eine breite soziologische Theoriedebatte, die Frage, inwieweit die kommunale Wohnungspolitik, oder genauer die kommunale Wohnungsinspektion, zur sozialen Disziplinierung der städtischen Unterschichten beigetragen hat. Im zweiten Teil umreißt er die Maßnahmen, Konflikte und Resultate des sozialpolitisch motivierten Eingreifens in den Wohnungsmarkt - eine Form der staatlichen Regulierung, die während des Ersten Weltkriegs begann und sich in der Weimarer Republik fortsetzte. Verstehen sich die beiden ersten Abschnitte im Wesentlichen als chronologisch aufeinanderfolgende Phasen der Wohnungspolitik, so wird im dritten Teil ein struktureller Wandel der lokalen Bauträger beschrieben, der dadurch gekennzeichnet war, dass die Dominanz der privaten Bauherren durch gemeinnützige Unternehmen abgelöst wurde. Dies war der praxisbezogene Begleitprozess zu dem zuvor beschriebenen politischen Prioritätenwechsel in der Wohnungsfrage.

Neben dem ungewöhnlich langen Betrachtungszeitraum zeichnet sich Kuhns Untersuchung vor allem durch ihren methodischen Ansatz aus. Er beschreitet einen Mittelweg zwischen soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Darstellungsformen zur Wohnungspolitik. Basierend auf klassischer historischer Quellenarbeit, der vor allem die Akten des städtischen Wohnungsamtes und des Magistrats zugrunde liegen, formuliert er eine zentrale These, die soziologischen Ansätzen entlehnt ist und die der Wohnungspolitik letztlich eine vorwiegend paradigmatische Bedeutung zukommen lässt. Kuhn begreift sie als ein Fallbeispiel einer erfolgreichen frühzeitigen Überwindung der Klassengesellschaft hin zu einer pluralen Gesellschaft der Individuen. Unter schwierigsten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und in relativ kurzer Zeit habe es die Frankfurter Wohnungspolitik der Weimarer Jahre geschafft, die bestehenden Klassenschranken abzubauen und in eine geregelte Form des Ausgleichs der Partikularinteressen überzuleiten. In Frankfurt sei damit auf kleiner Ebene vorübergehend eine gesellschaftliche Transformation gelungen, woran die Weimarer Republik im Großen gescheitert sei.

Bei aller Sympathie für die Leistungen und Erfolge der Frankfurter Wohnungspolitik, die Kuhn detailliert schildert und auch mit anderen deutschen Großstädten vergleicht - die von ihm postulierte Generalthese birgt die Gefahr der Überschätzung in sich. Zunächst diente auch die Frankfurter Wohnungspolitik der May-Ära, die ohne Zweifel stark gesellschaftspolitisch orientiert war, primär der materiellen Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum. Eine Nivellierung der sozialen Klassen war eher ein erwünschter Nebeneffekt als die Hauptzielrichtung. Zudem lässt sich bezweifeln, ob eine solch tiefgreifende gesellschaftliche Transformation, wie sie Kuhn erkennt, in einem Jahrzehnt realisiert werden konnte. Und schließlich war Frankfurt keine Insel der Glückseligen, die von den Radikalisierungstendenzen der frühen Dreißigerjahre verschont blieb. Wie überall in Deutschland geriet auch in Frankfurt das Bündnis aus Sozialdemokraten und Liberal-Bürgerlichen in die verhängnisvolle Umklammerung von Nationalsozialisten und Kommunisten. Die Geschichte des Scheiterns des pluralistischen Gesellschaftsmodells auch in der Frankfurter Kommunal- und Wohnungspolitik bleibt Kuhn indessen schuldig. Seine kenntnisreiche, gut geschriebene Darstellung wird durch die Überinterpretation der Tragweite der Wohnungspolitik leider in Mitleidenschaft gezogen.

Martin L. Müller, Frankfurt/Main



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