Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Thomas Küster (Hg.), Quellen zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie in Westfalen, Bd.1: 1800-1914 (Westfälisches Institut für Regionalgeschichte. Forschungen zur Regionalgeschichte, Band 26), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1998, 88 DM.

Quelleneditionen gehören eher zu den undankbaren Aufgaben des Historikers und auch in der Psychiatriegeschichte ist die Auswahl nicht groß. Umso mehr ist die Publikation des Historikers Thomas Küster zu begrüßen, der Quellen aus der westfälischen Anstaltsgeschichte in einem ersten Band (1800-1914) vorlegt. Dabei handelt es sich um Dokumente des behördlichen Schriftverkehrs auf der Kommunal- und Landesebene zur Verwaltung des Anstaltswesens sowie um Quellen zum Anstaltsleben und zur Außenkommunikation der Anstalten, wobei auch Briefe von Patienten und Angehörigen berücksichtigt wurden. Das Werk reiht sich in mehrere Arbeiten zur westfälischen Psychiatriegeschichte ein, die vom Westfälischen Institut für Regionalgeschichte herausgegeben wurden. Küster bereitet zur Zeit einen zweiten Quellenband vor, der die Zeit von 1915 bis 1950 abdecken soll.

Mit dem vorliegenden ersten Band wird eine entscheidende Phase der deutschen Psychiatriegeschichte behandelt. Denn der Bearbeitungszeitraum ist institutionengeschichtlich von der Entstehung der psychiatrischen Anstalten und deren Verteidigung gegen die Universitätspsychiatrie geprägt. Dieser Umstand macht den Blick auf die deutschen Anstalten notwendig. Küster sieht seine Edition ebenso wie die bisherigen psychiatriehistorischen Publikationen des Institutes als einen gesellschaftsgeschichtlichen Beitrag. Dem entspricht die Einteilung der Quellen in die Themenbereiche "Planung und Ausbau psychiatrischer Einrichtungen", "Psychiatrisches Handeln", "Aufnahme, Entlassung und Entweichen aus der Anstalt", "Anstaltsleben und Anstaltsdienst", sowie schließlich "Private und konfessionelle Anstalten". Die drei chronologischen Hauptkapitel werden durch diese Bereiche strukturiert. Der erste Teil der Edition widmet sich dem Beginn der westfälischen Psychiatriegeschichte (1800-1835). Diesem folgt ein zweiter Teil, der die Konsolidierung der Anstalten behandelt ("Anstaltspsychiatrie zwischen individueller Fürsorge und regionaler Planung", 1835-1873). Im dritten Teil schließlich wird deren Ausbau dokumentiert (1873-1914). Der Hauptteil der Edition wird durch eine Karte der Provinzialheilanstalten und kirchlich-privaten Anstalten in Westfalen ergänzt, ferner durch ein Abkürzungs- und ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie auch durch ein Personen- und Ortsregister.

Besonders ist die Einleitung Küsters hervorzuheben, in der die westfälische Anstaltsgeschichte kurz skizziert wird. Grundlage der Darstellung sind die oben genannten Themenbereiche. Durch den Verweis auf die nummerierten Quellen lässt sich die Einleitung als Leitfaden für die Nutzung des gebotenen Materials verwenden. Die kompakte Präsentation lässt den interessierten Leser fast vergessen, dass er im Falle ausführlicher Forschungen zu einem der Themenkomplexe die Archive besuchen muss. Denn Küsters Werk ist natürlich nur eine Quellenauswahl. Diese ist allerdings geglückt und bietet einen hervorragenden Einblick in verschiedene Perspektiven der westfälischen Anstaltsgeschichte. Dem fachkundigen Leser wird allerdings erneut schmerzlich bewusst, dass die Welt des psychiatrischen Anstaltspatienten sich zumeist nur in Umrissen mit Hilfe von Quellen aus dem Verwaltungsbereich erschließen lässt.

Als ein deutliches Defizit macht sich das Fehlen von Quellen zu den zeitgenössischen psychiatrischen Theorien und Konzepten bemerkbar. Erst dadurch wird nämlich das im Band ansonsten sehr gut dokumentierte "psychiatrische Handeln" verständlich - so beispielsweise die Verwendung von Zwangsmitteln in der "romantischen Psychiatrie" der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Durch einen Verweis auf die Sekundärliteratur lässt sich diese Schwäche nicht ausgleichen, zumal die Literaturliste am Ende des Werkes einiger wichtiger Titel entbehrt.

Trotz dieser geringen Schwächen handelt es sich bei der Dokumentation Küsters um eine wichtige Ergänzung zur psychiatriehistorischen Literatur, da der Forschung Quellen aus dem Alltag der westfälischen Psychiatrie des "langen 19. Jahrhunderts" für die tägliche Arbeit zugänglich gemacht werden. Sie gehört zumindest in jede medizin- und psychiatriehistorische Bibliothek.

Cay-Rüdiger Prüll, Freiburg



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