Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn etc. 1998, 368 S., geb., 88 DM.

Irgendwie, so gibt es selbst der Autor zu, habe man das alles schon gewusst - unzählig sind die Studien, die sich mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus und der Weltanschauung der Nationalsozialisten beschäftigen: In dieser feinen Differenzierung liegt die Räson des vorliegenden Buches, einer sehr gelehrten, gleichwohl knappen, präzisen, gut lesbaren Habilitationsschrift. Frank-Lothar Kroll gehört zu jener leider immer seltener anzutreffenden Spezies des Allround-Gelehrten, der sich aufs Eleganteste in den unterschiedlichsten Disziplinen zu bewegen versteht und Geschichte als das begreift, was sie an und für sich ist: Geistesgeschichte.

Dass Geistesgeschichte alles andere als ein blutleeres theoretisches Konstrukt ist, macht die vorliegende Studie drastisch deutlich. Da werden fünf Männer unter die geistesgeschichtliche Lupe genommen, an deren Händen das Blut von Millionen troff: Hitler, Rosenberg, Darré, Himmler, Goebbels. Auf den ersten Blick eine merkwürdige Gruppe, doch sie einte eines: Alle hatten reichlich Gelegenheit, ihre Weltanschauung in der Praxis zu erproben - sollte es auch das Leben ganzer Rassen und Völker kosten. Krolls leitendes Interesse: die Ideologie dieser Personen (von Persönlichkeiten mag man nicht sprechen) gebar ihre Utopien, diese zu verwirklichen bemühten sie sich alle - die Folgen sind bekannt.

Ein Ergebnis springt sofort in die Augen: „Die" NS-Weltanschauung hat es nicht gegeben. Sie war „pluralistisch". Kroll seziert die oft ebenso kruden und abenteuerlichen wie menschen- und geschichtsverachtenden Ideen dieser fünf auf der Suche nach deren jeweiligem Utopia. Es entstehen vor des Lesers Augen fünf davon und jedes einzelne widerlegt schlagend die Bloch`sche These, nur Marxisten und Sozialisten könnten überhaupt utopisch denken. Oh nein, hält ihm unser junger Gelehrter entgegen, ganz im Gegenteil! Das Handeln dieser fünf Männer schuf nämlich ganz „konkrete" Utopien und was als logischer Widerspruch in sich erscheinen mag, weist doch nur darauf hin, dass auch Utopien - wie die moderne Utopieforschung, z. B. Richard Saage - schon längst nachgewiesen hat, von praller historischer Dreidimensionalität sind.

Noch nie wurden die unterschiedlichen utopischen Entwürfe führender, genauer: handelnder Nationalsozialisten deutlicher herauspräpariert. Sie waren zum größten Teil miteinander inkompatibel, geradezu gegensätzlich, was etwa für Rosenberg und Darré, aber auch, hier noch schärfer, für Hitler und Himmler gilt. Natürlich fragt man sich sofort, wie denn die diametral unterschiedlichen Entwürfe - etwa hinsichtlich des Charakters und der Natur des „Neuen Europa", Rückwärtsgewandtheit und „Modernität" - zu einer einzigen „Weltanschauung zusammenflossen". Es fällt Kroll sichtlich schwer, darauf eine plausible Antwort zu finden. Der größte gemeinsame Nenner war der Judenhass - aus ganz unterschiedlichen Motiven; ein anderer, weniger durchschlagend, der Rassengedanke - aber das reichte beileibe nicht aus, um ein konzises NS-Gesamtgebäude zu errichten. Geistige „Polykratie" - man ahnt schon die „Lösung": auch auf diesem Feld war es Hitler und Hitler allein, der den geistigen Gemischtwarenladen zusammenhielt und sich dabei über Rosenberg und vor allem über Himmler auch noch mokierte.

Weil der Verfasser einer der besten Kenner der Geistesgeschichte auch des 18. und 19. Jahrhunderts ist, fällt es ihm nicht schwer, die jeweiligen Wurzeln des ideologisch-utopischen Denkens seiner „Helden" zu ermitteln. Auch das hat man ja gewusst, dass der NS enorm eklektizistisch war. Was man nicht so gewusst hat, ist die Tatsache, dass sich alle Fünfe der Geschichte nicht nur als einer „Waffe" (!) bedienten - „Geschichte als Waffe" habe ich das einmal genannt - sondern selbst ganz ungeniert Geschichte „machten". Nicht im landläufigen Sinn (das sowieso), sondern etwa nach dem erkenntnistheoretischen Muster Hegels. Nur mit dem Unterschied, dass dieser sich redlich bemühte, nichts sachlich offensichtlich Falsches in seine Geschichtskonstruktion einzufügen, wohingegen sich diese Fünferbande Geschichte „erfand", und zwar so, dass die Schlussfolgerungen „stimmten". Ein besonderer Meister darin war Rosenberg, aber Himmler stand ihm nicht viel nach.

Endzeitlich gaben sich alle. Die Metonymie vom „tausendjährigen Reich" wird in diesem Buch so einleuchtend wie noch nie erklärt. Die Geschichte selbst sollte mit dem weltweiten Sieg des Nationalsozialismus zu Ende gehen. Ein neues, geschichtsloses Weltzeitalter sollte anbrechen, ein gleichsam braunes Paradies entstehen. Sie fühlten sich als Demiurgen. „Menschen Götter gleich" hatte H. G. Wells 1923 einen viel gelesenen utopischen Roman genannt. Genau das wollten die Naziverbrecher sein. Sie waren buchstäblich Un-Menschen, so haben sie sich selbst begriffen. Ihre Unmenschlichkeit wird so erklärlich, ihr gutes Gewissen beim Abschlachten von Hekatomben menschlicher „Minderwertigkeiten" ebenfalls.

Krolls Buch ist Abschluss und Auftakt zugleich: Abschluss einer endlosen Debatte um den weltanschaulichen Charakter der NSDAP, Auftakt zu vielen neuen Untersuchungen. Denn es liegt auf der Hand, dass diese fünf zwar wichtig waren, jedoch vielleicht nicht repräsentativ. Kroll hat der Debatte um die „Historisierung" des Nationalsozialismus eine originelle Wende gegeben, es bleibt zu hoffen, dass die Zunft diesen Ball aufnimmt und von der bloßen „Mentalitätsgeschichte" endlich wieder zur klassischen „Geistesgeschichte" zurückkehrt. Dieses Buch zeigt, dass es sich lohnt.

Michael Salewski, Kiel



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