Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wolfgang Knöbl, Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700-1914, Verlag Campus, Frankfurt/Main 1998, 464 S., kart., 98 DM.

Wolfgang Knöbl verfolgt in diesem Buch ein ambitioniertes Argument: Er analysiert die Staatsbildung in drei Ländern – in Preußen, England und den Vereinigten Staaten von Amerika – über einen Zeitraum von mehr als zweihundert Jahren, um makrosoziologische Theorien der Staatsbildung und Vergesellschaftung kritisch zu evaluieren. Das Hauptaugenmerk seiner Studie liegt auf der Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols durch die Einrichtung einer entsprechenden Sicherheitspolizei innerhalb der drei genannten Länder, die für Knöbl drei unterschiedliche gesamtgesellschaftliche Problemlagen repräsentieren. Zur Konzeptualisierung dieser Unterschiede bezieht er sich nicht nur auf soziale, politische und wirtschaftliche Faktoren, sondern ebenso auf den eher kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Faktor der ‚Staatstradition‘.

Eigene historische Forschung hat Wolfgang Knöbl nicht geleistet und auch nicht beabsichtigt. Er synthetisiert bestehende historische Studien zur Staatsbildung und besonders zur Polizeientwicklung von einer klar definierten analytischen Perspektive aus. Makrosozialer Wandel – und das gilt es für Knöbl zu fassen – lässt sich aus seiner Sicht am besten erklären durch das Zusammenspiel von Organisation, Klassen und sozialen Bewegungen einerseits und von einer durch staatliche Akteure vorangetriebenen politischen Integration der Gesellschaft andererseits (S. 45). In seiner Auseinandersetzung mit den historischen Arbeiten innerhalb dieses weiten Themenfeldes blickt er vor allem auf die soziale und politische Mobilisierung der Bevölkerung bis hin zur Bildung von Klassen, die er auf die unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen und verfügbare Herrschaftsinstrumenten bezieht.

Ein solcher Zugang ist ungewöhnlich. Für Historiker ist die Beschränkung auf Sekundäranalysen von bestehenden Arbeiten außerhalb von Überblicksdarstellungen selten, für Politik- und Sozialwissenschaftler die intensive Auseinandersetzung mit einem längeren historischen Zeitraum nicht alltäglich. Die Resultate dieser Arbeit zeigen, dass sich Wolfgang Knöbls Vorgehensweise durchaus gelohnt hat. Er bietet dem Historiker nicht nur eine gut reflektierte, vergleichende Darstellung von Polizeientwicklung und Staatsbildung, sondern auch eine interessante und gut argumentierte Zusammenfassung der bestehenden theoretischen Konzepte in der ‚polizeibezogenen Herrschaftssoziologie‘ (S. 56-63).

Die im Schlusskapitel nochmals zusammengefassten Resultate seiner Untersuchung sind schlüssig, wenn auch für den Historiker nicht unbedingt überraschend: „Die jeweiligen Reaktionen auf soziale Bewegungen und Proteste sind eben auch abhängig von den existierenden staatlichen Strukturen und damit gegebenen Machtmitteln, die selbst wiederum Resultat früherer Staatsbildungsprozesse sind." (S. 351) Es ist sicherlich ein wesentliches Verdienst dieser Arbeit, aus einer vergleichenden Perspektive die unterschiedlichen Strukturen benannt und in ihrem Verhältnis zu den sozialen Bewegungen vor allem des 19. Jahrhunderts analysiert zu haben.

In seiner Darstellung der preußischen, englischen und amerikanischen Polizei verfolgt Knöbl die wesentlichen Entwicklungsschritte dieser Institution im Hinblick auf ihre Institutionalisierung, Professionalisierung und zunehmende Differenzierung, sowie ihre Beziehung zum Militär als ultima ratio der Ordnungssicherung in Preußen wie in England. Die Möglichkeiten eines systematischen Vergleiches sind jedoch begrenzt durch die Beschränkung des Autors auf die Auswertung der Sekundärliteratur. Gravierender erscheint die selbst auferlegte thematische Beschränkung durch die Fokussierung auf die soziale und politische Mobilisierung der Bevölkerung als Herausforderung an die staatlichen Akteure. Damit verstellt sich Wolfgang Knöbl den Blick auf zusätzliche Anreize zur Aus- und Weiterbildung von Polizei als Institution. Die Sorge um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung betraf eben nicht nur die sozialen und politischen Bewegungen, deren Bedeutung sicherlich nicht unterschätzt werden darf. Diese Sorge bezog sich ebenso auf vielfältige Formen abweichenden Verhaltens und lässt sich nicht nur über die statistische Häufigkeit von Delikten erschließen. Die obsessive Beschäftigung mit Arbeitsscheu unter verschiedenen Vorzeichen, die Sorge um Sexualität und Ansteckung mit Syphilis sowie mit einem liederlichen Lebenswandel bestimmten ebenfalls die Einstellung zur Ordnungs- und Sicherheitswahrung von Bürgern wie staatlichen Akteuren in den drei genannten Ländern.

Es ist außerdem bedauerlich, dass Knöbl keinen Versuch unternimmt, systematisch die Wechselwirkungen zwischen der Polizeientwicklung in den drei Ländern zu rekonstruieren. Er verweist zwar auf die Vorbildfunktion der Londoner Polizei für den Aufbau von städtischen Polizeidepartments in amerikanischen Städten, vernachlässigt jedoch die direkten Kontakte zwischen europäischen und amerikanischen Experten, wie etwa den Besuch von Raymond Fosdick, einem commissioner aus New York, bei den wichtigsten europäischen Polizeieinrichtungen.

Trotz der genannten Defizite besticht Knöbls Buch durch seinen klaren Aufbau, seine konzeptuelle Stringenz sowie durch die Verbindung von theoretischer Reflexion und historischer Evidenz. Es ist für den Polizeihistoriker, aber auch für jeden Historiker und Politikwissenschaftler, der sich für Staatsbildungsprozesse interessiert, eine gewinnende Lektüre.

Peter Becker, Florenz



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