Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914-1924 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 128), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, 451 S., kart., 89 DM.

Eine Lokalstudie als Gesellschaftsgeschichte – so könnte man kurzgefasst das Konzept benennen, das dieser veröffentlichten Kölner Habilitationsschrift zugrunde liegt. München im Jahrzehnt 1914-1924 liefert nicht nur reiches Anschauungsmaterial für soziale Probleme, politische Herausforderungen und wirtschaftliche Bewältigungsstrategien, sondern es ist als geographischer und historischer Ort auch geeignet, diese Ebenen miteinander zu verknüpfen, ihre wechselseitige Bedingtheit aufzuzeigen und daraus neue Einsichten zu gewinnen. Geyer sieht die Stadt als Synekdoche: Auf begrenztem Raum und – für diese Epoche ganz wichtig – in hoch beschleunigtem Tempo erlebten die Stadtbewohner die Verwirklichung politisch-weltanschaulicher Entwürfe von der kommunistischen Räterepublik bis zum nationalsozialistischen Putsch, sie erfuhren die Kraft, die von den neuen Massenbewegungen in Streiks und Protestdemonstrationen ausgehen konnte, und sie spürten am eigenen Leib den ungeheuren Strudel der Inflation, der nicht nur die bisherige Wirtschaftsordnung, sondern vielfach auch die soziale Ordnung durcheinanderwirbelte.

Im ersten Kapitel schildert Geyer, wie der Erste Weltkrieg diese Umwälzungen in Gang setzte, indem er – besonders seit 1917 – den Nationalismus in ein neues radikales Fahrwasser lenkte, indem er eine Industrialisierungswelle und Umschichtungen auf dem Arbeitsmarkt auslöste und indem er in der Bevölkerung das Vertrauen in die Regelungskompetenz des Staates untergrub, um nur einige Beispiele zu nennen. So sehr Geyer die Auswirkungen der durch den Krieg in Gang gesetzten Veränderungsprozesse – mit der Revolution als hervorstechendem Beispiel – plastisch zu schildern vermag, vermisst man doch das Gegenbild: nämlich eine Schilderung Münchens in der Zeit vor 1914, der oftmals idealisierten Prinzregentenzeit. Ein wenig wird das zu Beginn des zweiten Kapitels mit einem Exkurs über Schwabing, der auch in die Vorkriegszeit zurückführt, nachgeholt; dennoch erfahren die Leser im Wesentlichen nur ex negativo, wie eigentlich das München aussah, das sich nach Geyers Beschreibung seit 1914 so radikal veränderte.

Das zweite und dritte Kapitel der Darstellung mit ihrer thematischen Fokussierung auf Revolution und Gegenrevolution sind eng aufeinander bezogen; doch geht Geyer deutlich über eine erneute Schilderung der weithin bekannten Ereignisse, die ihren dramatischen Höhepunkt in den Räterepublikexperimenten des April 1919 fanden, hinaus. Ihn interessiert der neue politische Umgang mit den „Massen", wie er sich etwa im „Befreiungspathos eines Kurt Eisner" auf dem linken Spektrum der Politik äußerte oder im „radikalen Gegenentwurf" (S. 97) der nationalistischen Rechten, die eine willensschwache Masse der konsequenten Beherrschung durch einen Führer unterwerfen wollte. Auch den psychologischen Grundlagen solcher politischen Konzepte spürt Geyer nach und vermag dadurch von einer „bloß" politikgeschichtlichen oder „bloß" sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise zu einer vielschichtigeren Analyse von Revolution und Reaktion durchzudringen.

Diesem multiperspektivischem Ansatz bleibt Geyer auch in den folgenden Teilen der Studie treu. Wenn er im vierten Kapitel die Auswirkungen der Inflation auf Arbeitsmarkt und Löhne untersucht, dann schildert er nicht nur die Reallohn- und Lebensstandardentwicklung, sondern geht auch der Frage nach, wie die Geldentwertung traditionelle Lohnhierarchien und damit eigentlich soziale Hierarchien zum Einsturz brachte. Angestellte fürchteten ihre „Proletarisierung", weil ihre Gehälter sich immer mehr den Arbeiterlöhnen anglichen, soziale Zulagen riefen den Protest der Nicht-Begünstigten hervor, und die intensivierte Frauenbeschäftigung ließ eine neue Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt entstehen. An dieser Stelle hätte man im Übrigen gern noch mehr über das Verhältnis der Geschlechter in dieser Umbruchzeit erfahren, das – abgesehen von dem Hinweis auf die erhöhte Frauenerwerbsquote – kaum thematisiert wird. Auch die in den folgenden Kapiteln beschriebenen „Gestalttypen" – Konsumenten, Gläubiger und Schuldner, Hausbesitzer und Mieter, Spekulanten und ehrbare Bürger – bleiben weitgehend geschlechtsneutral, obwohl man sich beispielsweise schon vorstellen könnte, dass Frauen als Konsumenten ihre Interessen anders vertraten als Männer. Plastisch wird dagegen herausgearbeitet, dass die von der Inflation erzeugten Konfliktlinien häufig quer zu den traditionellen Partei- und Milieugrenzen verliefen. Verbraucher beschuldigten den Einzelhandel des „Wuchers", Einzelhändler suchten die Schuldigen dagegen bei Industrie und Großhandel; praktisch alle städtischen Verbraucher sahen sich von der Landwirtschaft betrogen, die wiederum den Staat und seine zwangswirtschaftlichen Eingriffe für die Missstände verantwortlich machte. Weil die tatsächlichen Zusammenhänge schwer zu erfassen waren, flüchtete sich die Bevölkerung nicht selten in stereotype Feindbilder. Der „Schieber" oder der „Spekulant" wurde dann zum Schuldigen erklärt; dabei ließ sich auch leicht darüber hinweggehen, dass die von fast jedermann praktizierten Behelfe wie Schwarzhandel oder Hamsterfahrten auch die Grenzen der Legalität überschritten. „Daß die eigenen materiellen Interessen oft nur gegen die Gesetze durchzusetzen waren, sollte zu den Grunderfahrungen der Inflationszeit gehören" (S. 193). Dieses veränderte Rechtsbewusstsein – Geyer spricht auch von „rechtsstaatlichem Bewußtsein" (ebenda), was in der Verkürzung zunächst nicht ganz verständlich ist – wird vor allem im Schlusskapitel noch einmal ausführlicher reflektiert. Es löste sich immer stärker ab von der Fokussierung auf Gesetze bzw. die staatliche Ordnung und rückte die „Selbsthilfe" in den Vordergrund. Die materiellen Notstände schienen zu beweisen, dass vom Staat – und allemal von der Republik – keine Gerechtigkeit kommen könne. In ihrer extremsten Form wurden die Gerechtigkeitsforderungen schließlich gegen den Staat gewendet und zur Legitimation für die Versuche, die bestehende Verfassung „im Interesse des Volkes" zu beseitigen. Das erklärt auch den Hintergrund, vor dem der Hitler-Putsch von 1923 in München stattfinden konnte.

Zum geistigen Wegbereiter des Extremismus wurde in der Inflationszeit nicht zuletzt die „politische Sprache" (Kap. IX), sei es in der Konstruktion des „jüdischen Wucherers" oder in den Rufen nach einem Diktator, der dem Volk endlich „Gerechtigkeit" verschaffen müsse. Im Jahr 1923, das historisch ebenso wie als zehntes Kapitel des Buches eine Peripetie bildet, sah es zeitweise so aus, als ob der Extremismus neben der mentalen nun auch die reale politische Ebene vollkommen erobern könne, vor allem weil die Hyperinflation dafür günstige Voraussetzungen schuf. Doch der Hitler-Putsch in München, den Geyer eher in einer Reihe mit anderen dramatischen Auseinandersetzungen im Reich sieht, scheiterte. Wichtiger als der vielfach geschilderte Ablauf des Umsturzversuches sind für Geyer die direkten und indirekten politischen Folgen, die sich etwa in den „Protestwahlen" von 1924 niederschlugen. Der Wahlentwicklung der Jahre 1919 bis 1924 wird ein eigenes Kapitel (XI) gewidmet, in dem die Daten über die Stimmabgabe bis in die einzelnen Stadtbezirke heruntergebrochen werden. Das Wahlverhalten reflektierte, wie sich auf dieser Ebene zum Teil deutlich belegen lässt, die Protesthaltungen und politischen Sehnsüchte, die sozialen Widersprüche und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen.

Geyers Darstellung einer Stadt in der Inflationszeit ist auch deshalb so anregend und sogar spannend, weil er sich mit München zweifelsohne einen Ort ausgesucht hat, der im lokalen Zuschnitt all die Polarisierungen spiegelt, die die Weimarer Republik als Ganzes belasteten. Das Verhältnis von lokal Spezifischem zu allenthalben feststellbaren Tendenzen oder zu Entwicklungen in vergleichbaren Städten hätte allerdings durchaus schärfer herausgearbeitet werden können. Dagegen kann der Versuch als gelungen betrachtet werden, eine Gesellschaftsgeschichte zu bieten, die die unterschiedlichen Befunde zur politischen Kultur, zum Wirtschaftsleben und zur Sozialgeschichte der Stadt miteinander verbindet und nach ihren gemeinsamen Ursachen forscht. Dabei hat der Verfasser das Kunststück vollbracht, ein gelehrtes Buch zu schreiben, in dem einem trotzdem nicht aus jeder Zeile die Mühseligkeit des Forschungsprozesses entgegenspringt. Man liest eine überwiegend fesselnde Darstellung ohne Längen, die als in sich gerundete Komposition zu überzeugen vermag.

Ulrike Haerendel, München



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