Archiv für Sozialgeschichte
Rezension

Wolfgang Ayaß, »Gemeinschaftsfremde«. Quellen zur Verfolgung von »Asozialen« 1933-1945 (=Materialien aus dem Bundesarchiv, Heft 5) Bundesarchiv Koblenz 1998, 400 S., brosch., 30 DM.

Der Umgang mit unangepasst lebenden Menschen gehört zu den Pervertierungen nationalsozialistischer Sozial- und Fürsorgepolitik, die unter Missachtung des Einzelschicksals ausschließlich das Wohl der Volksgemeinschaft im Auge hatte. Der Wert des Einzelnen wurde allein an seinem Nutzen für die Volksgemeinschaft gemessen. Diejenigen, die sich nicht in die Volksgemeinschaft einfügten, sollten nicht reintegriert, sondern bis hin zur »Ausmerze« ausgegrenzt werden. Auf institutioneller Ebene schlug sich diese Janusköpfigkeit in einer Aufgabenteilung zwischen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, die sich auf die Förderung der »wertvollen Volksgenossen« konzentrierte, und den staatlichen Fürsorge- und Polizeibehörden nieder, die die Verfolgung der »Asozialen« übernahmen. Unter Letzteren gab es jedoch keine Instanz, die sich kontinuierlich federführend um die »Asozialenverfolgung« kümmerte. Ebenso wenig existierte ein Plan für die Verfolgung. Im polykratischen Herrschaftssystem des Dritten Reiches beteiligten sich sowohl Reichsbehörden als auch kommunale Stellen, besonders der Dachverband »Deutscher Gemeindetag« konzeptionell und ausführend an der Ausgrenzungspolitik gegenüber Unangepassten.

Eine einheitliche Definiton des Personenkreises »Asoziale« hat es nie gegeben. Die begriffliche Elastizität begünstigte das hohe Maß an Willkür im Umgang mit den «Gemeinschaftsfremden». Die Begriffe »Asoziale« und »Gemeinschaftsfremde« wurden synonym gebraucht. Seit 1939, als das Reichsministerium des Innern verschiedene Entwürfe zu einem »Gemeinschaftsfremdengesetz« vorlegte, setzte sich die Bezeichnung »Gemeinschaftsfremde« immer stärker durch. Angesichts der durch die Kriegssituation noch weiter aufgewerteten Volksgemeinschaftsideologie bezeichnete der Ausdruck »Gemeinschaftsfremde« das negativ besetzte Gegenstück zum »produktiven Volksgenossen« besonders treffend. Unter die Kategorie »Gemeinschaftsfremde« fielen letztlich alle, die sich dem Zwang zur Konformität und dem Leistungsdruck in der NS-Gesellschaft entzogen, etwa Alkoholiker, »Arbeitsscheue«, Prostituierte, säumige Unterhaltspflichtige und Wohnungslose. Im zeitlichen Verlauf erfuhr die Verfolgung der »Asozialen« eine zunehmende Radikalisierung, hervorgerufen durch die Mobilisierung der »Volksgemeinschaft« im Zeichen des Vierjahresplans seit Herbst 1936 und des Kriegsausbruchs seit Herbst 1939.

Der Autor, ausgewiesener Experte für die Verfolgung von »Asozialen« im Nationalsozialismus, geht in seiner Einleitung auf diese Grundzüge der »Asozialenpolitik« im Dritten Reich ein. Dass sich das ausgrenzende Potenzial der nationalsozialistischen Fürsorgepolitik bis hin zu rassischen Begründungen bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre zurückverfolgen lässt, erwähnt der Herausgeber nicht. Vielmehr begrenzt er seine Einleitung auf die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft. Diese Vorgehensweise entspricht dem Berichtszeitraum der abgedruckten Dokumente. In Bezug auf die Präsentation der Quellen leuchtet die strikte Beschränkung auf den Zeitraum von 1933 bis 1944 ein, denn die Sprengung des zeitlichen Rahmens hätte eine unkontrollierbare Ausweitung der Quellen - auch über 1945 hinaus, so hinsichtlich der Wiederaufnahme der Diskussion um ein Bewahrungsgesetz - bedeutet. In der Einleitung hätten jedoch einige Hinweise auf Kontinuitätslinien das Bild abgerundet, ohne sie zu sehr auszudehnen. Die Berücksichtigung von Kontinuitäten vor 1933 und nach 1945 hätte nicht zuletzt deswegen nahegelegen, weil der Herausgeber sich für eine chronologische Anordnung der Dokumente entschieden hat und die Zäsur 1938 betont. Er folgt somit der von Sachße und Tennstedt im dritten Band ihrer »Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland« vorgenommenen Phaseneinteilung nationalsozialistischer Fürsorgepolitik. Während vor 1938 in erster Linie kommunale (Fürsorge-)Behörden die »Asozialenverfolgung«dominierten, riss nach 1938 die zentralisierte Polizei auf Reichsebene, vor allem Kriminalpolizei und Gestapo, die Initiative an sich. Für die Betroffenen bedeutete dies immer häufiger die Einweisung in ein Konzentrationslager.

Der Herausgeber hat bei der Auswahl der Quellen der Bedeutung des Jahres 1938 Rechnung getragen. Auf kein Jahr entfallen so viele Dokumente wie auf dieses (von den 159 Dokumenten stammen 32 aus dem Jahr 1938). Die meisten Quellen behandeln den Personenkreis »Asoziale«allgemein. Nur wenige Dokumente stellen einzelne Personengruppen, die zu den »Gemeinschaftsfremden« zählten, in den Mittelpunkt: sogenannte »Arbeitsscheue«, Wanderarbeiter, Fürsorgeempfänger, »asoziale Minderjährige«, Wohnungslose und Prostituierte. Es liegt gewissermaßen in der Beschaffenheit des Themas, dass die Quellen fast ausschließlich die Perspektive der sozialpolitischen oder polizeilichen Akteure widerspiegeln, wohingegen »Asoziale« selbst kaum zu Wort kommen. Aufgrund seiner Erforschung der Arbeitsanstalt Breitenau in Hessen kann der Herausgeber immerhin den Brief eines Arbeitshausgefangenen an seine Mutter aus dem Jahr 1934 präsentieren.

Besonderes Lob verdienen der Spürsinn und die Akribie des Herausgebers, ein möglichst breites Spektrum von Quellen zum Thema zu zeigen. Hierunter befinden sich auch Quellen aus personenbezogenen Einzelfallakten, wie Anordnungen von Vorbeugehaft gegen »Asoziale«, die Einzelschicksale vor Augen führen. Diese sind so sorgfältig ausgewählt, dass sie dem heutigen Leser die Bandbreite von Anlässen veranschaulichen, die zur Vorbeugungshaft oder anderer repressiver Maßnahmen gegen Einzelne - beispielsweise zur Verweigerung eines Mutterverdienstkreuzes - führten.

Es entspricht dem polykratischen Charakter der »Asozialenverfolgung«, dass nicht nur Dokumente von Reichsinstanzen, sondern auch von Fürsorgebehörden einzelner Städte, abgedruckt sind. Da das Vorgehen gegen »Asoziale« in der zeitgenössischen Presse thematisiert worden ist, hat sich der Herausgeber entschlossen, auch Zeitungsberichte aufzunehmen. Es wäre wünschenswert gewesen, hätte allerdings den Rahmen dieser Edition gesprengt, auch die Diskussion in den einschlägigen Fachzeitschriften von Rassenhygienikern, Medizinern, Fürsorgern und Juristen über Asozialität und über das Bewahrungsgesetz wiederzugeben.

Es ist der Öffentlichkeit der Maßnahmen gegen Asoziale angemessen, dass die Edition sich nicht auf unveröffentlichte Quellen beschränkt, sondern neben Presseberichten auch bereits zeitgenössisch veröffentlichte Erlasse und Verordnungen aufnimmt, ja sogar an anderer Stelle publizierte Quellen erneut abdruckt, wie das erwähnte Beispiel des Briefes eines Insassesn des Arbeitshauses Breitenau belegt. Zudem liegt es im Interesse der Benutzbarkeit, dass in den Quellen häufig zitierte Gesetze als eigenständige Stücke abgedruckt sind oder in den Fußnoten als Text zitiert werden, so beispielsweise das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom November 1933. Auf den thematischen Zusammenhang zwischen einzelnen Dokumenten, der durch die chronologische Anordnung der Dokumente verlorengeht, wird durch Verweise in den Fußnoten aufmerksam gemacht.

Die Einrichtung der Dokumente folgt den Editionsrichtlinien der Editionsgruppe um Florian Tennstedt an der Gesamthochschule Kassel, die die Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik seit 1867 herausgibt und zu dessen Mitarbeitern der Herausgeber vorliegender Edition zählt.

Insgesamt hat man es mit einer in jeder Hinsicht vorbildlichen Edition zu tun. Die Dokumente sind durch ausführliche Erläuterungen, einschließlich biographischer Skizzen zu den auftretenden Personen, aber auch zu historischen Begriffen oder Sachverhalten benutzerfreundlich präsentiert. Auch ein Leser, der sich in der Sozialpolitik des Dritten Reiches nicht auskennt, wird auf diese Edition gern zurückgreifen. Sie schließt eine Lücke in der deutschen Editionslandschaft, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur zum Nationalsozialismus.

Elke Hauschildt, Koblenz



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