Archiv für Sozialgeschichte
Rezension
Markus Ingenlath, Mentale Aufrüstung. Militarisierungstendenzen in Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, Verlag Campus, Frankfurt/Main 1998, 478 S., kart., 98 DM.
Zwei grundlegende Trends haben die militärgeschichtliche Forschung der letzten Jahre bestimmt: zum einen die Erweiterung der Kriegsforschung hin zur Alltags- und Mentalitätengeschichte, zum anderen die stärkere Berücksichtigung der sozialen Situation des Militärs in Friedenszeiten. Ingenlaths Studie, aus einer Münchener Dissertation von 1994 hervorgegangen, verknüpft diese beiden Stränge, indem sie sich mit dem Alltag und den Mentalitäten von Wehrpflichtigen in den Friedensjahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg befasst.
Den eigentlichen Wehrdienst interpretiert der Verfasser jedoch nur als eine Phase innerhalb einer längeren 'militärischen Sozialisation', die auch den Schulbesuch und die außerhalb der Schule, etwa im öffentlichen Raum oder in Wehrvereinen, empfangenen Eindrücke mit einbezieht. Ein regionaler Zugriff grenzt dieses Untersuchungsfeld sinnvoll ein. Um die gewonnenen Ergebnisse besser konturieren zu können, werden die Verhältnisse in Deutschland und Frankreich vergleichend gegenübergestellt: am Beispiel des 1. Armeekorps-Bezirks in Bayern und der 'région du 1er Corps d'Armée' an der Kanalküste. Bevor Ingenlath allerdings auf die Prägung der jungen Männer diesseits und jenseits des Rheins in Schule und Kaserne eingeht, referiert er zunächst in einem (etwas zu ausführlich geratenen) Kapitel die Geschichte der jeweiligen Wehrsysteme zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg. Seit Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 das preußisch-deutsche System praktisch kopiert hatte, unterschieden sich die Heeresverfassungen beider Länder nur noch in Details. Beiden gemeinsam war jedenfalls das Verlangen, ein möglichst engmaschiges Netz der Erfassung und Kontrolle über die Gesellschaft zu werfen, auch wenn das vorhandene Wehrpotential nie wirklich komplett ausgeschöpft wurde. In Deutschland etwa lag die tatsächliche Aushebungsquote nur bei maximal 55% eines Jahrgangs. Diese Zurückhaltung war jedoch nicht, wie lange angenommen, davon abzuleiten, dass die sozialdemokratisch eingestellte Arbeiterschaft mit Vorsatz von den Kasernen ferngehalten wurde. Politisch aktive Arbeiter wurden zwar den Armeebehörden gemeldet, aber daraus folgte nicht der Ausschluss oder die gezielte Ausmusterung, sondern nur eine besonders aufmerksame 'Beobachtung' während der Dienstzeit. Der Verfasser trägt hier mit seiner Quellenkenntnis dazu bei, eine liebgewordene 'Legende' aus der Militärgeschichte des Kaiserreichs zu verabschieden.
Viel vollständiger als die allgemeine Wehrpflicht erfasste die Schulpflicht die Angehörigen eines Jahrgangs. Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts konnte sich ihr nur noch eine verschwindend kleine Minderheit entziehen. Ingenlath behandelt also in der Tat Institutionen, mit deren 'Erziehungsangeboten', betrachtet man sie im Verbund, fast jeder junge Mann in Deutschland und Frankreich nachhaltig konfrontiert worden ist.
Unter dieser Voraussetzung zeichnet der Autor 'Normalbiographien' nach, die ihren Ausgang von Schulen nahmen, an denen viele Lehrer, mehr noch in Deutschland als in Frankreich, einen militärischen Habitus pflegten und wo nationalistische Unterrichtsinhalte an der Tagesordnung waren. Außerhalb der Schule wirkte die öffentliche Präsenz des Militärs auf die Heranwachsenden ein. In Frankreich hatten sich zudem die 'Jugendwehren' zu regelrechten Massenorganisationen entwickelt - paramilitärische Verbände, die in Deutschland weniger stark gefördert wurden, da man hier allen Spielarten der 'Volksbewaffnung' grundsätzlich mit Skepsis begegnete. Der Eintritt in die Armee überantwortete die jungen Männer schließlich einer Organisation, die sie in jeder Hinsicht zu vereinnahmen suchte: Die erzwungene Trennung von Familie und Freunden machte den 'Kameradschaftszwang' unausweichlich, und die totale Kontrolle über jede Lebensäußerung ging soweit, dass sogar noch versucht wurde, die üblichen 'Ausbruchsversuche' wie den Alkoholexzess einem Reglement zu unterwerfen. Durchgesetzt wurden Kontrolle und Reglement von einer strikten Hierarchie, die sich allerdings in Deutschland und Frankreich unterschiedlich entwickelte. Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts überall greifbare 'Autoritätsverlust', der auch vor den Kasernentoren nicht haltmachte, führte in Deutschland zu einer trotzigen Verschärfung der Disziplin, während in der französischen Armee die neue Formel vom 'bedingten Gehorsam' bereits ein Widerspruchsrecht des Untergebenen bei völlig unsinnigen Befehlen implizierte. Hierdurch wurde ein wenig von jener 'Aufwertung des Individuums', die damals von der Republik kultiviert wurde, auch in das Heer hineingetragen. Die Armee passte sich der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung an, entsprach also einer Erwartung, die in den Streitkräften prinzipiell einen 'Diener' der Gesellschaft sah. Indem man in Deutschland hingegen die Armee gegen die Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft abschottete und auf der Notwendigkeit der konsequenten Einordnung jedes einzelnen in ein streng hierarchisch gegliedertes Kollektiv bestand, verteidigte man gleichzeitig auch die grundsätzliche Position des Heeres als eines Staatsorgans 'über' der Gesellschaft. Damit war das Verhältnis zwischen Streitmacht und Gesellschaft, so der Verfasser, im Vergleich zu Frankreich auf den Kopf gestellt: Nicht die Armee habe der Gesellschaft gedient, sondern die Gesellschaft der Armee.
Dass es Ingenlath in dieser Weise gelingt, die in Frankreich und Deutschland grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen vom Stellenwert der Armee in Staat und Gesellschaft auch an konkreten Reaktionen auf soziale Veränderungen festzumachen - und damit diese Differenz noch einmal durch neue Befunde zu bestätigen -, ist seiner materialreichen Studie sicherlich als Verdienst anzurechnen. Der vergleichende Ansatz erweist sich hier als ausgesprochen fruchtbar. Weniger überzeugend ist die Arbeit dort, wo sie 'Mentalitätengeschichte' betreiben will; der Titel 'Mentale Aufrüstung' weckt hier Erwartungen, die an keiner Stelle eingelöst werden. In der Regel begnügt sich der Autor damit, aus der Struktur der Institutionen, mit denen die jungen Männer in Berührung kamen, und aus der Gestaltung ihres Alltags vage Rückschlüsse auf Bewusstseinsinhalte zu ziehen, die aber in Ermangelung von Quellen - einmal abgesehen von einigen dürftigen Angaben zu Lesestoffen und Liedgut - nirgends wirklich erhärtet werden können. Außerdem hätte beachtet werden müssen, dass auch noch andere Faktoren als Schule, Parade und Kommiss auf das Bewusstsein der Heranwachsenden einwirkten. Die neuere Forschung zur politischen Kultur des Kaiserreichs hat deutlich genug auf deren Vielfalt hingewiesen, die sich eben nicht zur Gänze auf Militarismus und Obrigkeitsstaat reduzieren lässt. Auch jene dramatische Zuspitzung, die der Titel des Buches suggeriert, lassen die für die Zeit zwischen 1871 und 1914 konkret herausgearbeiteten Entwicklungslinien kaum erkennen.
Frank Becker, Münster